Illettrismus. Zum Problem und seinen Herausforderungen
Wir haben es in der Schweiz also mit mehrfachen Literalitätsproblemen zu tun: Sie betreffen Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
Seit PISA 2000 und mit der Testwiederholung im Jahr 2003 ist «Lesen» ins Zentrum von bildungspolitischen Diskussionen gerückt. Ein erheblicher Teil der Heranwachsenden verfügt nicht über jene Grundkompetenzen, die zur Bewältigung der alltäglichen Informationsvielfalt und zum Weiterlernen mit Texten, Büchern und mit anspruchsvollen Medien notwendig sind. Mangelhafte Schriftfähigkeiten sind aber längst nicht nur bei Jugendlichen auszumachen. Literalität, die Fähigkeit, verschriftete Texte zu verstehen und selber sich auch schreibend einzubringen – diese Fähigkeit ist auch bei Erwachsenen keineswegs gesichert. Bereits 1999 hat der Verein Lesen und Schreiben für Erwachsene (VLSE) in seiner Petition «Lesen und Schreiben: ein Recht» darauf hingewiesen, dass die Lesefähigkeiten bei einem erschreckend grossen Teil der Schweizer Bevölkerung (19%) ungenügend sind.
Lesen – ein Problem mehrerer Generationen und eine Frage der Bildungsgerechtigkeit
Wir haben es in der Schweiz also mit mehrfachen Literalitätsproblemen zu tun: Sie betreffen Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Befunde aus verschiedenen Studien deuten darauf hin, dass zwischen den Leseschwächen der verschiedenen Generationen durchaus ein Zusammenhang besteht. Über ausreichende Lesefähigkeiten verfügen jene Jugendlichen am wenigsten, die in so genannt bildungsfernen Umgebungen aufgewachsen sind und deren Eltern ihrerseits einen schlechten Zugang zur Schrift haben. Die Vermutung liegt deshalb nahe: Das Problem schleppt sich von Generation zu Generation, und dies in einer Zeit der medialen Vielfalt, in der Lesekompetenzen in hohem Mass verlangt sind. Während die einen Zugang zu allen Informationsquellen haben, ihr Wissen und ihre Kommunikationsmöglichkeiten laufend erweitern, bleiben andere davon ausgeschlossen. Was in der Fachsprache als «Digital Divide» bezeichnet wird, die unterschiedlich guten Zugänge zu den elektronischen Medien in unserer Gesellschaft, ist tatsächlich zugleich auch ein Bildungsgraben.
Alltag bewältigen und Zugang zum Wissen erhalten
Was als unzulängliche, genügende oder elaborierte Lese- und Schreibfähigkeit gelten kann, wird in Fachkreisen in Bezug auf ein Literacy-Konzept diskutiert. Es beschränkt sich nicht allein auf Lesekompetenzen. Mit dem – nicht zuletzt in der Folge von PISA – verbreitet verwendeten Begriff ist vielmehr eine jeweils hinreichende Ausrüstung mit den für den jeweiligen Bereich wichtigen Kenntnissen, Fertigkeiten und Strategien zum Problemlösen und kontinuierlichen Weiterlernen gemeint. Lesen gilt dem Literacy-Konzept entsprechend als basale Kulturtechnik. Kaum berücksichtigt worden sind hier die motivationalen und emotionalen Aspekte des Lesens, etwa die Fähigkeit, vom Lesen einen persönlichen Gewinn zu erwarten oder mit anderen über Gelesenes zu diskutieren. In den Ergebnissen aus verschiedenen anderen Studien der Leseforschung zeigt sich allerdings, dass positive Motivation und emotionale Beteiligung den Schrifterwerb wesentlich unterstützen und dass das Aufwachsen in einer förderlichen Umgebung eine bedeutende Rolle spielt. Was im Hinblick auf das Verständnis von Literacy für den Erwerb von Lesefähigkeiten festgestellt wurde, gilt weitgehend auch für Prozesse des Schreibenlernens und für den Aufbau von Rechenfähigkeiten: Der Begriff umfasst ein ganzes Bündel von Teilfähigkeiten und ist Voraussetzungen unterworfen, die innerhalb der Schule, in der Familie, mit verschiedenen bildungs- und kulturpolitischen Massnahmen und Angeboten gegeben sein müssen. Der Begriff Illettrismus bezeichnet die Unfähigkeit, Lese- und Schreibfertigkeiten adäquat anzuwenden. In den meisten Definitionen sind Rechenfähigkeiten bzw. die diesbezüglichen Defizite miteingeschlossen. Illettrismus als gesellschaftlicher Befund verweist eben auf die Tatsache, dass es Erwachsene gibt, die der Landes- oder Regionalsprache mächtig sind, die Schule mehr oder weniger regelmässig besucht haben und dennoch jene Grundfertigkeiten (Lesen und Schreiben) kaum oder gar nicht beherrschen, die ihnen die Schule hätte vermitteln sollen.
Illettrismus: Leidensgeschichten aus der Sicht der Betroffenen
Lange Zeit war dieser Befund mit einem Tabu belegt – und er ist es auch in unserem Land teils noch heute: Wer als Erwachsener nicht lesen und schreiben kann, traut sich kaum, sich mit dieser Schwäche zu zeigen. Sie gilt als Zeichen mangelnder Gesellschaftsfähigkeit, eben gerade deshalb, weil man mit Analphabetismus in einem hochindustrialisierten Land fälschlicherweise schon gar nicht rechnet. Die Folge ist, dass die betroffenen Menschen sich mit ihrer Schwäche möglichst nicht zeigen, dass sie Scham empfinden, Vermeidungs- und Ausweichstrategien entwickeln und Hilfe nicht auf direktem Weg holen. Einen tieferen Einblick in die Not solcher Defiziterfahrungen haben u. a. die Sektionen des Vereins Lesen und Schreiben für Erwachsene (VLSE), welche nicht nur Lernhilfen anbieten, sondern ihre Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer überdies dazu ermutigen, die Geschichten ihres Schriftlernens und eben auch Misserfolgsgeschichten aufzuarbeiten und das Schreiben auf jeden Fall zu wagen.
Koordinierte Massnahmen sind dringend notwendig
Der Trendbericht «Illettrismus», den das Bundesamt für Kultur (BAK) im Anschluss an die Petition des Vereins Lesen und Schreiben für Erwachsene in Auftrag gegeben hat und der 2002 erschienen ist, fordert als dringliche Massnahme ein Netzwerk, das die verschiedenen Institutionen in den Bereichen Lesen und Schreiben näher zusammenführt und die Akteurinnen und Akteure unterstützt. Das Bundesamt für Kultur hat diese Forderung in einem weiteren Schritt aufgenommen. Ebenfalls in seinem Auftrag hat das Zentrum Lesen der Pädagogischen Hochschule Aargau Kontakt mit verschiedenen Expertinnen und Experten aus Institutionen aufgenommen, welche in den Bereichen Lesen und Schreiben tätig sind. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer besseren Vernetzung und Koordination der Massnahmen zur Schriftförderung ist der Informations- und Erfahrungsaustausch zwischen den Fachleuten, die teils in Bibliotheken, Kindergärten und Schulen mit der Prävention des Illettrismus befasst sind, und mit jenen, welche im Rahmen von Kursen und Alphabetisierungsprojekten für die Bekämpfung des Illettrismus arbeiten. Fragen stellen sich in den beiden Bereichen zum Teil sehr ähnlich:
- Welche schulischen Förderkonzepte sind hilfreich und effektiv für Kinder, die aus schriftfernen Elternhäusern kommen und keine selbstverständlichen Bezüge zwischen den kulturellen Erfahrungen zuhause und jenen in der Schule machen können?
- Welche Methoden sind hilfreich für das Schriftlernen Erwachsener? Und wie können sie im Hinblick auf die vielfältigen Anforderungen heutiger Schriftwelten – zum Beispiel am Computer – unterstützt werden? Zugänge zur Schrift und Zugänge zu Computertechnologien – sind sie sinnvollerweise miteinander zu verbinden?
- Welche Erfahrungen, welche Stationen im Leben von Kindern aus schriftfernen Elternhäusern ermöglichen – trotz vergleichsweise ungünstigen Voraussetzungen – ein erfolgreiches Schriftlernen und in der Folge einen erfolgreichen Bildungsweg?
Literatur
Eine Liste mit Literatur zum Thema finden Sie auf unserer Website: http://www.zentrumlesen.ch/rundschreiben.cfm
Aktuelle Informationen
Weitere themenbezogene Informationen finden Sie auf der erst kürzlich aufgeschalteten Website LesenLireLeggere.