Lesetraining – Überlegungen zur Konzeption
von Andrea Bertschi-Kaufmann, Petra Hagendorf, Gerd Kruse, Maria Riss, Hansjakob Schneider und Thomas Sommer
Lesen lernen die einen Kinder scheinbar beiläufig: bei der Begegnung mit Texten, aufwachsend in einer Buch- und Medienumgebung. Andere Kinder brauchen eine systematische Unterstützung. Unter anderem hat auch PISA deutlich darauf hingewiesen, dass die Schule zur Erreichung des Lernziels Lesen weit mehr Anstrengungen unternehmen soll als bisher. Lesetraining ist also angesagt, nicht nur in der Primarschule, wo man schon immer damit gerechnet hat, dass Kinder eine konsequente Förderung brauchen, sondern auch in der Sekundarstufe I, wo entwickelte Lesekompetenzen bei den Jugendlichen keineswegs einfach vorausgesetzt werden können.
Viele Verlage sind unterdessen aktiv geworden und bieten den Schulen Lesetrainingsmaterialien an. Zum Teil sind die Übungssammlungen allerdings noch wenig strukturiert und kommen als eher zufällige Zusammenstellungen daher.
Im Rahmen unseres Projektes «Lese- und Schreibkompetenzen fördern» (es wurde im Rundschreiben 6/2004 vor- gestellt) haben wir Trainingspakete zusammengestellt. 58 Lehrerinnen und Lehrer aus der Primar- und der Realschule (Sekundarstufe C) sind nun daran, die Materialien mit ihren Klassen zu erproben. Im Projekt interessieren wir uns zum einen für die Effekte, welche das Lesetraining für die Entwicklung der Lesekompetenz bei Kindern und Jugendlichen hat, dies im Vergleich zu einer offenen Leseförderung, die ein Teil der Schulklassen ebenfalls durchführt. Zum anderen sind wir neugierig auf die Erfahrungen mit dem vergleichsweise eng strukturierten Lesetraining in der Praxis. Wir werden die Rückmeldungen aufnehmen, die Materialien weiter ausarbeiten und anschliessend mit einer Publikation allen Interessierten zur Verfügung stellen.
Nachfolgend ein erster Einblick in die Grundlagen und in die Struktur des dreiteiligen Lesetrainings. Ein ausgewähltes Beispiel zu einem der Trainingsteile findet sich im Beitrag «Lesegeläufigkeit trainieren» von Thomas Sommer.
Entwicklung von Lefähigkeiten und Lesestrategien
Lesekompetenz ist zum einen die Fähigkeit zum Entziffern von Wörtern und Sätzen (‹Dekodierung›), zum anderen aber
- sehr viel umfassender – die Fähigkeit zur Bedeutungskonstruktion und damit zum Leseverstehen. Leseverstehen erfordert das Herstellen von Sinnzusammenhängen, das heisst Kohärenzbildung einerseits mit den Elementen, welche der jeweilige Text anbietet, und Einordnung der Textelemente in bestehende Wissenszusammenhänge andererseits. Wichtige Faktoren im Verstehensprozess sind
- die Wahrnehmung von Textelementen: das Wiedererkennen von Buchstaben und Wortbausteinen.
- die Wort- und Satzerkennung: viele bekannte und wieder erkannte Wörter und Satzelemente erleichtern das Erschliessen von Bedeutungen.
- das Vorwissen: es erleichtert das Herstellen von Sinnzusammenhängen innerhalb des Textes und das Einordnen der Textinformationen in einen weiteren Bedeutungszusammenhang.
- die Motivationen und die Leseziele: Interessen, Erwartungen und Intentionen beeinflussen die Wahl von Lesezielen und diese leiten den Lese- bzw. den Konstruktionsprozess.
- die Lernziele und die Lesestrategien: Strategien können als mentale Programme verstanden werden, welche die Abfolge und die Gewichtung von Verarbeitungsschritten im Umgang mit dem jeweiligen Text beeinflussen.
- Metakognition und Monitoring: damit eine flexible, dem jeweiligen Text angepasste Verarbeitung möglich ist, müssen die verfügbaren Strategien situations- und anforderungsgerecht ausgewählt, koordiniert und überprüft werden. Souveräne Leserinnen und Leser bauen auf die Fähigkeit, ihre Verfahren im Verlauf des Leseprozesses zu überprüfen und allenfalls zu korrigieren.
- die allgemeine Denkfähigkeit und das Arbeitsgedächtnis: sie erlauben ein adäquates Erfassen neuer Informationen und ihre Einordnung in weiter zurückliegende Rezeptionen.
Diese weitgehend kognitiven Leistungen stellen unterschiedliche und vor allem auch unterschiedlich hohe Anforderungen an die Lesenden. Die kognitionspsychologische Forschung unterscheidet diesbezüglich zweierlei Arten von Vorgängen: Hierarchieniedrige Prozesse, innerhalb derer mehrheitlich automatisierte Abläufe beim Lesen erfolgen:
A Die Erkennung von Wort und Satz und die Verknüpfung von Satzfolgen sind wichtige Teilleistungen im Leseverstehensprozess. Es geht hier um den Aufbau einer Textbasis durch lokale Kohärenzbildung. Wir bezeichnen die in diesen Prozessen geforderten Kompetenzen als Lesefertigkeiten; je besser sie trainiert sind, desto eher laufen sie ‹automatisch› ab.
B Ähnlich verhält es sich mit dem Lesefluss. Wer gewohnheitsmässig liest und durch Texte verhältnismässig schnell hindurch kommt, verfügt zwar nicht zwingend über ein besseres Sinnverständnis, aber er hat doch günstigere Voraussetzungen dafür. Lesegeläufigkeit ist also ein weiteres Ziel jenes Trainingsteils, in welchem Leseprozesse automatisiert werden.
Hierarchiehöhere Prozesse, die mehrheitlich ein zielorientiertes Lesen und die bewusste Planung des Lesevorgangs verlangen:
C Hier geht es um das Herstellen von Zusammenhängen innerhalb des Textes sowie zwischen dem Text und dem eigenen Vorwissen, um das Erkennen von Textsorte und Textstruktur und um das Erfassen von textsortenspezifischen Darstellungsweisen und der damit verbundenen Textabsicht. Mit Leistungen dieser Art steuern Leserinnen und Leser – mehr oder weniger bewusst – ihren Leseverstehensprozess. Die Verfahrensweisen bezeichnen wir als Lesestrategien.
Aufbau des Lesetrainings
Im Rahmen unserer Trainingsanlage sollen Kompetenzen in den Bereichen Lesefertigkeiten (A) und Lesestrategien (C) mit entsprechenden Aufgabenstellungen gezielt aufgebaut und ausgebaut werden. Parallel dazu wird die Lesegeläufigkeit (B) gefördert, indem die Kinder und Jugendlichen ausgewählte Textstellen repetierend lesen und vorlesen.
Ziel des gesamten Trainings ist es, Lesegeläufigkeit bei den Kindern und Jugendlichen so aufzubauen, dass sie einerseits im Sinne des angloamerikanischen Fluency-Konzepts mühelos decodieren, flüssig lesen und sinngestaltend vorlesen können, andererseits im bewussten, zielgerichteten und problemlösenden Umgang mit Texten trainiert werden.
Auf die Rückmeldungen der Kolleginnen und Kollegen aus der Schulpraxis und auf die Ergebnisse zum Fortschritt der Kompetenzentwicklungen sind wir gespannt.