Im Fokus: Die Hochschullehre der Zukunft gestalten
«Viele Firmen sitzen auf Datenbergen aber es fehlt an Fachkräften, um diese gewinnbringend einzusetzen».
Interview mit Dr. Norma Graf, Projektleiterin für die Entwicklung des neuen Ausbildungskonzeptes und Bachelor-Studiengangs Data Science.
Frau Graf, die FHNW hat 2018 den ersten Data Science Studiengang der Schweiz auf Bachelor-Stufe eingeführt – im Herbst 2019 beginnen die ersten Studierenden. Was versteht man unter Data Science?
Data Science, zu Deutsch Datenwissenschaft, bezeichnet zunächst ganz allgemein die Extraktion von Wissen aus Daten. Das ist ein Grundpfeiler des naturwissenschaftlichen Arbeitens, also erst mal noch nichts Neues.
Welche Bedeutung hat Data Science im Kontext des digitalen Wandels?
Der digitale Wandel manifestiert sich unter anderem in der schier uneingeschränkten Vernetzung von Menschen, Institutionen und Dingen sowie der orts- und zeitunabhängigen Verfügbarkeit von Daten und Informationen. Durch neue Technologien haben wir es heute mit einem exponentiellen Wachstum der verfügbaren Datenmengen zu tun. Das geht vom Bewegungsmuster eines Individuums mittels Fitness-Trackern oder Smart-Watches, den Ernährungsgewohnheiten über Kühlschränke, die mit dem Internet verbunden sind, den Musikgeschmack via Streaming-Dienste, oder die politische Gesinnung über das Kaufverhalten von Büchern über Amazon. Gleichzeitig ermöglicht die starke Vernetzung der Menschen und Dinge die extrem schnelle Verfügbarkeit ebendieser Daten.
Dies stellt Industrie, Wirtschaft und Gesellschaft vor neue Herausforderungen in Bezug auf den Umgang mit diesen Daten. Auf der einen Seite eröffnet der Zugang zahlreiche neue Möglichkeiten, um Wissen zu extrahieren, das dann gesellschaftlich und wirtschaftlich genutzt werden kann. Auf der anderen Seite reichen klassische statistische Analysemethoden nicht mehr aus, um die Datenmengen zu bewältigen. Genau hier kommt Data Science ins Spiel.
Was ist die Aufgabe von Data Scientists?
Daten werden gerne als Gold des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Mir gefällt das Bild des Goldes ganz gut. Genau wie der Besitz einer Goldmine noch nicht per se reich machte, führt auch der Besitz von Daten alleine noch nicht zum Erfolg. Erst das Schürfen des Goldes oder in unserem Fall eben der Erkenntnisse aus den Daten erlaubt es, die Daten sinnvoll und gewinnbringend einzusetzen. Die Goldminen-Besitzer unserer Zeit sind Unternehmen wie Google, Amazon, Microsoft oder Apple. Sie alle beschäftigen zahlreiche Gold-Schürferinnen und -Schürfer, also Data Scientists, um die relevanten Informationen, also die Gold-Nuggets, aus den Datenbergen zu extrahieren. Erst ihr Know-How ermöglicht es den Firmen, wettbewerbsfähig zu bleiben.
Weshalb braucht es einen eigenen Studiengang für Data Science?
Viele Firmen sitzen auf Bergen von Daten, wissen aber oft nicht, wie sie diese gewinnbringend, fair und zuverlässig einsetzen können. Zahlreiche Studien belegen, dass sowohl schweizerische als auch ausländische Unternehmen dem Thema der Durchdringung dieser Datenmengen höchste Priorität einräumen. Gleichzeitig zeigen alle diese Studien auch, dass die Implementierung in den betrieblichen Alltag trotz grosser Dringlichkeit nur schleppend vorangeht. Als Hauptgrund dafür kommen alle zum gleichen Schluss: Es fehlt an Fachkräften und Spezialisten im Bereich Data Science. Viele Unternehmen suchen verzweifelt nach Menschen mit den Fähigkeiten, grosse und komplexe Datenmengen zu bearbeiten, zu filtern und zu analysieren. Mit unserem Studiengang adressieren wir diesen Mangel und bilden genau solche Fachpersonen aus.
Sie sind verantwortlich für die Entwicklung des Ausbildungskonzeptes für den Studiengang. Welche Überlegungen stehen hinter dem Konzept?
Lernen funktioniert meist nach dem gleichen Prinzip, ob bei Kleinkindern oder im Berufsleben: Es beginnt mit einer Frage beziehungsweise dem Wunsch nach einer Antwort. Besonders in der Schule lernen wir jedoch häufig zuerst Antworten auf Fragen, die wir noch gar nicht gestellt haben und vielleicht auch nie stellen werden. Wir lernen sozusagen auf Vorrat. Das kann schnell zu Motivationskrisen führen und ist zudem nicht sehr nachhaltig.
Unser Ausbildungskonzept ist vollkommen neu – wir beginnen den Lernprozess konsequent mit einer Frage.
Die Leitung der Hochschule für Technik FHNW gewährt dem Projekt grosse Freiräume, so dass wir die Chance haben, etwas grundsätzlich Neues zu entwickeln.
Wie sieht das konkret aus, welche praxisrelevanten Kompetenzen werden den Studierenden vermittelt?
Der Lernprozess startet mit einer interdisziplinären Fragestellung, die je nach Niveau der Studierenden vorgegeben, gemeinsam entwickelt, oder eigenständig formuliert wird. Der Kompetenzerwerb wird dann je nach Lerntyp, Zeit und Interessen individuell gestaltet und organisiert. Um die Studierenden dabei nicht zu überfordern, steht ein umfangreiches Unterstützungsangebot zur Verfügung. Dies reicht von persönlichen Coaches, die bei der Planung, Organisation und persönlichen Weiterentwicklung helfen, über Fachexpertinnen und -experten in Data Science, Recht, Wirtschaft und Gesellschaft bis hin zu regelmässigen «Lunch-Talks», Hackathons und Blockkursen, wo sich die Studierenden untereinander kennenlernen und austauschen können.
Mit Inhalten und Form des Studiengangs ist unser Angebot damit ganz gezielt einerseits auf den Bedarf von Wirtschaft und Gesellschaft ausgerichtet und entspricht gleichzeitig den Bedürfnissen der jungen Studierenden-Generation der «digital natives».
Frau Graf, herzlichen Dank für das Gespräch.