4.11.2023 | Pädagogische Hochschule
Die Schule als Safe Space gegen Diskriminierung
Herabsetzung und Benachteiligung in der Schule. Diese zu erkennen und darauf zu reagieren, lernen angehende Lehrpersonen. Einblick in das Seminar «Bye Bye Sexismus und Co.»
Bildung soll gemäss den Nachhaltigkeitszielen der Uno-Agenda 2030 «inklusiv» und «gleichberechtigt» sein. Um dies zu erreichen, muss im Schulkontext jegliche Form von Diskriminierung erkannt und aufgelöst werden können. Einen Beitrag dazu will das Projekt INGE K. leisten. Ins Leben gerufen hat es Sabrina Lisi, Dozentin und Forscherin an der Professur für Pädagogische Psychologie mit Schwerpunkt Entwicklung und Erziehung am Institut Sekundarstufe I und II der PH FHNW.
Doppelt oder dreifach benachteiligt
INGE K. steht für intersektional ausgerichtete Geschlechterkompetenz – der weibliche Vorname im Projektname kommt also nicht von ungefähr. «Die Herabsetzung und Benachteiligung zum Beispiel von Mädchen oder queeren Jugendlichen ist allerdings oft nicht die einzige Form von Diskriminierung, die Schüler*innen erfahren», sagt Sabrina Lisi. Hinzukommen können Rassismus, Klassismus (Diskriminierung aufgrund des sozialen Status) und Ableismus (von engl. able, fähig sein, also Diskriminierung aufgrund einer Beeinträchtigung wie ADHS, Sehschwäche oder Lernschwierigkeiten). Gerade letztere Form sei in der Schule relativ weit verbreitet, so Lisi. Beleidigungen wie «Zappelphilipp» und «Brillenschlange» lassen grüssen.
Intersektionalität liegt vor, wenn sich mehrere Diskriminierungsformen überschneiden. Ein Beispiel: Nicht alle Mädchen leiden in der Mathematik gleich stark unter den verbreiteten Geschlechterstereotypen («Frauen können nicht rechnen»). Jene, die einer ethnischen Minderheit angehören und/oder aus einem bildungsfernen Milieu stammen, sind doppelt oder dreifach benachteiligt. Die Folge können Ausgrenzung, Mobbing und – laut Sabrina Lisi nicht zu unterschätzen – Suizidalität sein.
Anspruchsvolle Geschlechterkompetenz
Die engagierte Forscherin fordert deshalb: «Gegen schulspezifische Störungen muss die Schule selbst ankämpfen und zum Safe Space werden.» Sprich: Lehrpersonen sollten die Resilienz, also das Wohlbefinden von Schüler*innen fördern. Doch dafür müssen sie «Diversitätskompetenz» erlangen, also die Fähigkeit, Verschiedenheiten zu erkennen, anzuerkennen und schützen zu können. Am anspruchsvollsten ist gemäss Sabrina Lisi die im Projektnamen hervorgehobene Geschlechterkompetenz. Dies deshalb, weil an den Schulen Buben und Mädchen selbstverständlicher und unmissverständlicher kategorisiert werden als zum Beispiel unterschiedlich privilegierte Kinder. «Ein Klassiker sind Gruppeneinteilungen», sagt Lisi: «Wenn es etwas Schweres zu tragen gilt, werden in der Regel die Jungs dazu aufgerufen.» Umgekehrt sollten es auch nicht nur die Mädchen sein, die dafür gelobt werden, dass sie «schön gemalt» haben.
Feldforschung in pädagogischen Institutionen
Wie man diese Binarität nicht unnötig reproduziert, lernen Studierende der Erziehungswissenschaften auf Sek-I- und Sek-II-Stufe seit 2022 im Seminar «Bye Bye Sexismus und Co.» an der PH FHNW. In der freiwilligen Veranstaltung eignen sie sich Wissen an und führen in pädagogischen Institutionen Feldforschung durch. Dabei vertiefen sie anhand einer ausgewählten Diskriminierungsform eine bestimmte Diversitätskompetenz. Die Forschungsfrage kann etwa lauten: Inwiefern fördert der Kindergarten XY die Möglichkeit sich auszuprobieren, etwa durch eine Verkleidungskiste?
Und: Wie reagieren die pädagogischen Fachkräfte, wenn sich Mädchen nicht nur als Prinzessinnen und Buben nicht nur als Ritter verkleiden möchten? Oder auf der Primarstufe: Brechen die Fallbeispiele in den Unterrichtsmaterialien auch mal mit Klischees wie der bürgerlichen Kleinfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und zwei Kindern?
Diese Frage der Repräsentation hat Seminarteilnehmerin Julia Thyroff erörtert, und zwar im Geschichtsunterricht. Gesellschaftliche Diversität müsse in den behandelten Geschichten ihren Niederschlag finden, fordert die angehende Gymnasiallehrerin. Die Zeit klassischer westeuropäischer Nationalgeschichten und Geschichten über «grosse Könige» sei vorbei. Vielmehr gelte es, globale Perspektiven einzunehmen und dabei auch marginalisierte Geschichten sichtbar zu machen. Thyroff stellte in Interviews fest, «dass Lehrpersonen dafür durchaus aufgeschlossen sind, aber oftmals schlicht daran scheitern, geeignetes Unterrichtsmaterial zu finden».
Helge Müller hat das INGE-K.-Seminar ebenfalls absolviert. Er arbeitet bereits als Sekundarlehrer und beobachtete die Schüler*innen auf dem Pausenplatz. «Dort sind Lehrpersonen weniger präsent als im Schulzimmer, und die Jugendlichen verhalten sich natürlicher», begründet Müller sein Vorgehen. Was er gesehen habe, sei teils «recht heftig» gewesen: den Umgang und die Wortwahl der Schüler*innen untereinander, die Beschimpfung einer hörbeeinträchtigten Schülerin und dergleichen.
Geeignete Unterrichtsmaterialien
Was also tun, um den vielfältigen Formen von Diskriminierung Einhalt zu gebieten? Bei Helge Müller hat die Schulleitung eine Arbeitsgruppe einberufen, die einen Leitfaden ausarbeitet. Und Julia Thyroff verweist auf eine wachsende Sammlung geeigneter Unterrichtsmaterialien, die als Grundlagen des Seminars auf einer digitalen Pinnwand zugänglich sind (siehe Infokasten «Padlet» ganz unten). Solche Medien waren im September auch Gegenstand des Weiterbildungskurses «Diversität in Schulbüchern?!» am Pädagogischen Zentrum Basel-Stadt.
Sabrina Lisi möchte die Praxistransfers und Unterrichtsmaterialien am liebsten sämtlichen Schulstufen zur Verfügung stellen, «denn das Seminar scheint zu wirken». Darauf weisen die ersten Ergebnisse der soeben durchgeführten Evaluation hin. Die Befragung von Seminarteilnehmenden zu Beginn und zum Schluss der Veranstaltung zeigt gemäss Lisi «einen signifikanten Zuwachs an Diversitätssensibilität», verglichen mit einer ebenfalls befragten Kontrollgruppe.
Eine zweite Erkenntnis: Das Seminar müsste – entgegen dem aktuellen Curriculum – möglichst am Anfang der Ausbildung besucht werden können, gleichzeitig mit der Fachdidaktik. «Diskriminierung passiert nicht absichtlich», gibt Sabrina Lisi zu bedenken. Gerade deshalb wäre es für zukünftige Lehrpersonen zentral, Strategien gegen problematische Verhaltensweisen wie den Gender Bias möglichst früh zu entwickeln, um nicht wieder und wieder in die gleiche Falle zu tappen.
Text: Thomas Röthlin
Der Artikel erschien in «Das Heft», Ausgabe Nr. 10 (2023) zum Thema «Nachhaltigkeit in Bildung».
Padlet
Das Padlet ist eine Sammlung an Literatur, Medien und Hilfestellungen für pädagogische Fachkräfte aus dem PH-FHNW-Seminar «Bye Bye Sexismus & Co».
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