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19.9.2022 | Pädagogische Hochschule

Nachdenken über philosophische Fragen verändert die Perspektive

Die Pädagogische Hochschule FHNW entwickelt ein Philosophie-Lehrmittel für Kinder.

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Die Kinder lernen beim Philosophieren auch zuzuhören, zu begründen und ihre Meinung zu überdenken. Foto: Christoph Buchs.

Die Kinder der 5. Klasse an der Schule Unterentfelden haben sich in einen Kreis gesetzt. «Wir werden heute zusammen philosophieren», sagt die Lehrerin Rebecca Gisi. «Ihr habt euch ja bereits ins Thema eingelesen und ich bin gespannt auf eure Diskussion». Mit dem Thema, das die Kinder bearbeiten, gehen sie aufs Ganze. Wie es sich für Philosophinnen und Philosophen eben gehört. In der Lektion geht es um die Frage der Geschlechtsidentität. Anhand einer fiktiven Geschichte eines Kindes, das sich nicht auf ein Geschlecht festlegen will und je nach Tag auf den Namen Lea oder Leo hört, wird die Klasse in der Folge die grossen Fragen erörtern, die das Beispiel aufwirft.

«Damit wir miteinander gut diskutieren können, erinnere ich euch an unsere Regeln», sagt Rebecca Gisi. Sie hat in der Mitte des Kreises verschiedene Karten ausgelegt, auf denen Symbole abgebildet sind: Ein Ohr fürs Zuhören, ein Baum für die freie Rede, geometrische Formen fürs Beispielegeben.

Die Kinder gehen ziemlich in medias res, direkt zum Kern des Problems: Es gibt keine klare Lösung, sondern viele Ambivalenzen. Ein Mädchen stellt fest, dass man sich durch das Geschlecht unterscheiden kann und so eben eine Identität erhält, was im Alltag doch sehr hilfreich sei. Dass diese Identität aber eben auch ein Klischee sein kann, darauf kommt ein Junge: «Ein Mädchen kann ja auch Fussballspielen. Es gibt kein typisch weiblich oder typisch männlich.» Ein anderes Mädchen findet es irritierend, dass ein und dieselbe Person je nach Tag unterschiedliche Namen hätte, «aber ich würde das Kind unterstützen, wenn es so leben möchte.» Die Diskussion ist rege am Laufen, und die Kinder sagen: «Ich schliesse mich an», oder «hier würde ich widersprechen» – ein bisschen wie in der SRF-Arena, einfach gesitteter.

Bestandteil des Lehrplans 21

Weil das Philosophieren in der Schule zwar nicht als eigenständiges Fach, doch als fester Bestandteil verschiedener Fächer Teil des Lehrplans 21 ist, ist Christoph Buchs von der Pädagogischen Hochschule FHNW derzeit daran, das Lehrmittel «Philofit» zu erarbeiten. Auch Buchs ist an diesem Mittag mit von der Partie. Denn die Klasse von Rebecca Gisi erprobt einen von rund 50 Impulsen, die das Lehrmittel umfassen wird. Gegliedert in acht thematische Bereiche wird dieses voraussichtlich ab Herbst 2023 Lehrpersonen ermöglichen, mit ihrer Klasse über Fragen wie «was ist ein gutes Leben?», «was ist der Mensch?» oder «was ist Wissen?» zu diskutieren.

«Wir versuchten in den Impulsen durch kleine Geschichten Denkmöglichkeiten zu schaffen. Oft sind das irreale Situationen, die lust- und spannungsvoll sind und den Kindern ermöglichen, zum Geschehen Stellung zu beziehen oder Fragen zu stellen», erzählt Buchs, von Haus aus Primarlehrer und Philosoph. Seit rund zehn Jahren widmet er sich als Leiter der Fachstelle Philosophieren mit Kindern der Frage, wie das Philosophieren ins Klassenzimmer kommen kann. Viele Fächer hätten einen ethischen Aspekt, den man nur über philosophisches (Hinter-)Fragen thematisieren könne. «Die Kinder sollen lernen, eigene Fragen zu entwickeln. Wir geben ihnen mit unseren Geschichten den Einstieg.» Die 50 Impulse haben Buchs und sein Team aus Gedankenexperimenten der Fachphi­losophie und aus Ideen der kinderphi­losophischen Literatur hergeleitet oder teilweise selbst erfunden. Bereits die Titel der einzelnen Übungen versprechen Anregung, auch für Erwachsene: «Die Glücksmaschine», «der Gartenplatz – Verteilungsgerechtigkeit» oder «Gesetze – Unterschied zwischen Naturgesetzen und sozialen Regeln».

Zurück zur Diskussion über Geschlecht und Identität. Ein Junge meldet sich mit einem interessanten Gedanken: «Mich nimmt es wunder, wie man in der Steinzeit übers Geschlecht redete. Die hatten bestimmt noch nicht so viele Begriffe.» – Das Wissen verändert die Perspektive auf das Leben. Die Diskussion nimmt in der Folge für Fünftklässlerinnen und -klässler einen beachtlichen Komplexitätsgrad an. Ohne dass Rebecca Gisi als Moderatorin eingreift, kommen Kinder an den Punkt, an dem sie auf der einen Seite biologische Kategorien und auf der anderen Seite gesellschaftliche Normen wie Kleider und Verhalten benennen können, und sehen, dass die beiden Aspekte ineinander verflochten und nicht dasselbe sind.

Kinder werden zu eigenem Denken angeregt und lernen zu argumentieren

«Im Unterrichtssetting des Philosophierens geht es nicht darum, dass einfach alle wild durcheinander ihre Meinungen kundtun, sondern darum, sich argumentativ und rhetorisch möglichst offen einem Thema zu widmen und dadurch ein tieferes Verständnis zu erhalten – die Kinder sollen zum eigenen Denken angeregt werden», erklärt Gisi nach dem Unterricht. Gisi ist seit einer Weiterbildung zu Philosophieren mit Kindern «Feuer und Flamme» für diese Art von Unterricht. «Zwischendurch einen solchen Safe-Space aufzumachen, eine offene Atmosphäre zu schaffen, tut den Kindern und dem Klassenklima gut.» Es ist offensichtlich: Die Kinder haben Spass, ihre Meinungen auszuprobieren. «Sie lernen dabei Begründen, Zuhören und ihre Meinung zu überdenken – das sind Kompetenzen, die ihnen auch im Alltag helfen», erklärt Gisi weiter. Sie beobachtet, dass sich in einem solchen Setting auch die eher schüchternen Kinder zu Wort melden und Selbstvertrauen gewinnen können.

Für Christoph Buchs endet nun die Erprobungsphase des Lehrmittels. In zehn Klassen auf Kindergarten- und Primastufe hat er vierzig Impulse testen lassen. Die beteiligten Lehrpersonen haben zu den Unterrichtseinheiten mittels Beurteilungsbögen und Interviews differenziertes und konstruktives Feedback gegeben. Nun gilt es, sämtliche Anregungen zu prüfen, das Lehrmittel entsprechend zu überarbeiten und die dazugehörigen Materialien fertig zu stellen. Rebecca Gisi ist schon jetzt überzeugt, dass das Lehrmittel zu geistiger Offenheit und zur Horizonterweiterung beiträgt. «Wenn die Kinder genug früh kritisches Denken und offenes Diskutieren üben, sind sie bereit für die Herausforderungen, die auf ihre Generation zukommen.»

- Michael Hunziker - 

Fachstelle Philosophieren mit Kindern

Zum Thema Philosophieren mit Kindern bietet die gleichnamige Fachstelle der PH FHNW Beratung, Aus- und Weiterbildungen an und führt Entwicklungs- und Forschungsprojekte durch.

weitere Informationen

Warum sollen Kinder Philosophieren lernen?

Christoph Buchs, Leiter der Fachstelle Philosophieren mit Kindern an der Pädagogischen Hochschule FHNW

Der Lehrplan 21 enthält den Auftrag, dass Kinder ab dem Kindergarten lernen, über grundlegende Fragen des Lebens nachdenken zu können. Wie ist diese Kompetenz zu verstehen? Inhaltlich geht es um philosophische Themen. Viele denken dabei an abstrakte Texte und Theorien von Platon oder Kant, die schwer zu verstehen scheinen. Damit sollen sich Kinder befassen? Nein, Philosophieren in der Schule und die Fachphilosophie unterscheiden sich stark, teilen aber in gewisser Weise den Ausgangspunkt. Denn auch die wissenschaftliche Philosophie geht ursprünglich von Fragen aus, die allen zugänglich sind; einfach deshalb, weil sie dem menschlichen Leben, Denken und Sprechen entspringen. Bereits Vierjährige verwenden Ausdrücke wie «ich weiss», «das ist wahr/falsch» oder «das ist gut/schlecht». Solche Ausdrücke verwenden wir im Alltag ganz selbstverständlich.

Sie können aber zum Thema von philosophischem Interesse werden, wenn Erwachsene wie auch Kinder in Situationen geraten, in denen diese Begriffe fragwürdig erscheinen: Die Erde sieht flach aus, aber wir wissen, dass sie rund ist. Wie kann das sein? Das kann zum Weiterfragen führen: Wann weiss man eigentlich etwas zweifelsfrei? Oder Kinder hören von ihren Eltern, es sei schlecht, zu lügen, aber dann «erwischen» sie den Vater bei einer Höflichkeitslüge. Ist es doch manchmal gut, zu lügen? Und weitergefragt: Was sind eigentlich die Entscheidungsmerkmale von gutem Handeln? Das sind Fragen, für die sich auch Kinder interessieren.

Erste Schritte beim Nachdenken-Lernen

So fragen zu können, ist bereits eine philosophische Teilkompetenz. Wie der Beitrag über die 5. Klasse zeigt (vgl. Artikel oben), schaffen Lehrpersonen im Unterricht etwa durch das Erzählen von kurzen Geschichten Situationen, die Kinder zum philosophischen Fragen anregen sollen. Danach geht es jedoch weiter: Fragen rufen nach Meinungen und Meinungen nach guten Gründen. Diese können wiederum Zweifel, Einwände und Gegengründe hervorrufen. All das tun zu können, heisst philosophieren können. Es scheint offensichtlich, dass Kinder dies nicht einfach mitbringen, sondern lernen müssen. Das Ziel des philosophischen Unterrichts auf der Kindergarten- und Primarstufe besteht denn auch darin, dass Kinder erste, basale und ihrem Alter angepasste Schritte im Erlernen und Üben dieser Kompetenzen machen können.

Überfachliche Kompetenzen

Grundlegende Fragen stellen – Meinungen äussern – Einwände formulieren: Philosophieren findet in einem interaktiven Rahmen statt; der gemeinsame Dialog ist zentral. Miteinander ein Gespräch führen können, erfordert auch sogenannt überfachliche Kompetenzen wie geduldig sein, zuhören, etwas auf den Punkt bringen oder Kritik ertragen können. Diese Kompetenzen werden beim Philosophieren quasi mitgelernt und entsprechen Schlüsselkompetenzen wie Kommunikation, Kooperation, Kritisches Denken und Kreativität, die von der OECD als besonders wichtig für das Aufwachsen und Leben im 21. Jahrhundert betrachtet werden (4 K). Die Kinder können diese Fähigkeiten in anderen Fächern, im Klassenleben aber auch ausserhalb der Schule mit Gewinn anwenden.

Für Bildung wichtig

Fazit: Philosophieren ist eine allgemeinbildende Aufgabe für die Volksschule, weil dabei Fragen aufgegriffen werden, die für alle bedeutsam sind, und weil die Kinder dabei Werkzeuge kennenlernen, um mit solchen Fragen erkenntniserweiternd umgehen zu können. Sie lernen dabei, sich im Denken und Handeln mehr und mehr eigenständig zu orientieren.

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