17.9.2019 | Pädagogische Hochschule
«Wir brauchen pädagogische Lawinenverbauungen»
Ein Interview mit dem Resilienzforscher Wassilis Kassis über die Verletzlichkeit des Individuums und die Rolle der Schule bei sozialen Herausforderungen.
Von Michael Hunziker (Text), Barbara Keller (Foto)
Der Begriff Resilienz hat Hochkonjunktur und liegt in aller Munde. Was aber bedeutet er genau?
Wassilis Kassis: Auf den kürzesten Nenner gebracht, bedeutet Resilienz Erfolg entgegen aller Erwartungen. Wir reden hier von Entwicklungswegen, die aller Wahrscheinlich nach auf Misserfolg «getrimmt» wären, auf die niemand «wetten» würde. Aber trotz den schwierigen Vorzeichen entwickeln sich gewisse Personen(gruppen) positiv. Die Frage ist nun: Wie kommt das zustande, was können Gesellschaft und Schule tun, um diese Erfolgswege zu fördern und zu stabilisieren.
Wie muss man sich das auf individueller Ebene vorstellen. Wird man bereits resilient geboren?
Resilienz ist nicht, wie noch vor 20 Jahren angenommen, bloss eine isolierte individuelle Eigenschaft. Man wird nicht resilient aufgrund eines Persönlichkeitszugs, sondern es braucht soziale wie auch gesellschaftliche Aspekte dafür. Die persönlichen Faktoren sind bloss ein Pfeiler von Resilienz. Ebenso wichtig sind Menschen – significant others, so der Fachterminus, die uns stützen und Halt bieten. Dann kommt noch der gesellschaftliche Pfeiler hinzu. Darunter verstehen wir demokratische Strukturen, Institutionen, die etwa verschiedene Ausbildungswege ermöglichen. Ohne diesen dritten Pfeiler würde alle individuelle Motivation verpuffen. Es ist also nicht jeder seines Glückes Schmied. Die individuellen Faktoren sind niemals ausreichend und entstehen auch nicht aus sich selbst heraus.
Wie kann jemand Resilienz entwickeln, der keinen Gefahren und Verletzungen ausgesetzt ist?
Der braucht sie nicht zu entwickeln! Das ist ja das Schöne. Diejenigen, die nicht belastet sind, werden nie Resilienz ausbilden, weil sie sie nicht brauchen. Resilienz bedeutet, dass ich auf dem Weg der Wiedergenesung bin. Wenn ich oder das soziale System, in welchem ich mich bewege, nie besonders stark belastet waren, muss ich auch nicht genesen. Zudem ist Resilienz immer bereichsspezifisch. Es gibt keine generelle, keine Allround-Resilienz. Wenn jemand resilient ist, dann ist die Person nicht automatisch auch gewaltresilient. Resilienz ist also ein Verhältnis zu einer ganz spezifischen und existierenden Entwicklungsbelastung. Deshalb sage ich meinen Studierenden, dass sie sich freuen können, wenn sie nicht resilient werden müssen. Ohne Belastung keine Resilienz.
Die Vorstellung ist weitverbreitet: Wer es früher schwerer hatte, der ist später härter. So à la «Was dich nicht umbringt, macht dich stärker» …
Das ist empirisch gesehen, entschuldigen Sie die starke Formulierung, ein Humbug sondergleichen! Eine Wunschvorstellung, eine regelrechte Moralpredigt, die weitverbreitet ist. Der Mensch ist eben nicht unbesiegbar, sondern als Wesen hochgradig verletzlich, vulnerabel. Wir haben eine dünne Haut, wir scheitern und je nach Druck bricht jede und jeder ein. Niemand ist unzerstörbar, auch wenn uns die Filmindustrie mit Titeln wie «Unbreakable» und «Invictus» das glauben machen will. Gerade die Verletzlichkeit macht uns zu Menschen. Weil wir sterblich und verletzlich sind, können, ja müssen wir Gutes tun und auf uns gegenseitig achten. Die Schäden, die Wunden und Narben, die wir tragen, verheilen nie wirklich ganz.
Versteckt sich in gewissen Resilienzverständnissen ein Imperativ, der Schwächen stigmatisiert? Im Sinne von: Mach was! Sei nicht schwach!
Sie sprechen den sogenannten «Blaming the victim»- Reflex an. Das ist ein Vorwurf an die Schwachen, sie würden sich nicht bewegen, nicht verändern. Eine alte Geschichte mit westlicher Tradition, die in unserem Bewusstsein stark verankert ist und sich im Alltag etwa in Slogans wie «Just do it» manifestiert. Unsere empirischen Studien zeigen aber, wie notwendig für die Überwindung individueller Probleme ein passendes soziales Angebot an Hilfestellung ist. Nicht irgendeine Unterstützung, sondern eine, die passt. Natürlich braucht es auf individueller Ebene den Willen, etwas zu ändern. Wir nennen das den Navigation-Aspekt, also dass sich jemand auf ein Ziel hin bewegt. Man kann niemanden gegen seinen Willen resilient «machen». Zu dieser Navigation, so die Studien Michael Ungars aus Kanada, gehört aber auch eine Negotiation, ein angemessenes, individuell ausgehandeltes Angebot. Ab der Stange läuft (fast) nichts.
Ist diese Sichtweise nicht zu deterministisch?
Es ist schon so, dass bei Individuen häufig Probleme sichtbar werden, die einen sozialen, ja gesellschaftlichen Ursprung haben. Trotzdem halte ich ganz klar fest: Es unterliegt auch (aber eben nicht einzig) unserer individuellen Verantwortung, das Beste, das Optimum, aus dem Leben machen zu wollen. Wir dürfen Selbstverantwortung nicht gering schätzen, die Freiheitsgrade dazu können aber je nach belastenden sozialen, gesellschaftlichen Bedingungen sehr reduziert sein.
Wie entwickelt sich die Resilienz denn beim Menschen, wenn sie weder angeboren noch ein konstantes Persönlichkeitsmerkmal des Individuums ist?
Diese individuellen Resilienzpotentiale hat der Mensch nicht einfach so. Man kann sie gezielt in der Gegenwart fördern – ohne Gewissheit, dass die auch künftig, bei anderen, neuen Belastungen, wieder abgerufen werden können. Das, was wir den Kern unserer Persönlichkeit bezeichnen, Affektkontrolle, Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit, hat sich in der Interaktion mit uns nahestehenden Menschen entwickelt. Über soziale Anerkennung können die Potentiale gestärkt werden. Daher sind in der Schule auch die sogenannten «Teacherbeliefs» entscheidend. Es gibt Forschungsarbeiten, wie etwa das SCALA-Projekt (siehe S. 24, Anm. der Red.), die zeigen, dass die Einstellung der Lehrperson in Bezug auf ein Kind über dessen Schulerfolg massgeblich entscheidet. Fehlt der Glaube an das Förderpotential des Kindes, dann fallen seine Anstrengungen und sein Selbstbild wird schwächer. Die individuellen Faktoren sind also wechselseitig bedingt.
Hier kommt die Schule auf den Plan. Wie kann sie diese Wechselseitigkeit, die Negotiation positiv gestalten?
In einem ersten Schritt muss sie sich über die optimalen Ziele bewusst werden und identifizieren, worin genau die Belastung besteht, und dann entscheiden, was zu tun ist. Das bedeutet für die Lehrperson, ihre Schülerinnen und Schüler etwa zu fragen, wo sie ihre Hausaufgaben machen. Am Boden, am Küchentisch oder an ihrem eigenen Pult? Zudem bieten Elterngespräche Gelegenheit, nach Belastungen zu fragen.
Inwiefern ist denn das Familiäre noch Zuständigkeitsbereich der Schule?
So lange die sozialen Probleme in die Schule kommen, muss sie sich damit auch auseinandersetzen und Anpassungsstrategien dafür entwickeln, das ist ihre Aufgabe. Es sind jedoch Probleme, an die wir nicht direkt herankommen. Wir «installieren» also in der Schule, im übertragenen Sinne wie ein Bergdorf, pädagogische Lawinenverbauungen, damit die Lawinen nicht in die Klasse kommen. Dabei bleiben die eigentlichen Probleme, etwa dass abgeholzt, dass das Dorf am falschen Ort gebaut wurde, unbearbeitet. Die kann die Schule nicht beheben. Niemand kommt auf die Idee, zu sagen, dass wir in den Bergen keine Lawinenverbauungen brauchen. Aber bezogen auf die Schule strecken viele die Hände auf und sagen, dafür ist die Schule nicht zuständig. Da sage ich dezidiert: Nein, das ist falsch! Vielleicht sind die Lehrpersonen nicht alleine gefordert, sondern auch die Schulsozialarbeit, der schulpsychologische Dienst, aber wir brauchen pädagogische Lawinenverbauungen. Und vielleicht sollten wir uns auch fragen, was wir als Gesellschaft präventiv gegen die in der Gesellschaft entstandenen Probleme, die Lawinen, unternehmen können.
Was könnten die Lehrperson konkret tun?
Es ist ja nicht so, dass die Lehrperson mit dem Resilienzbegriff einen harrypotterschen Zauberstab in der Hand hält. Es wäre bestimmt nett, eine Handwerkswissenschaft mit pfannenfertigen Erfolgsrezepten zu haben. So einfach ist es leider nicht. Aber zentral für die Lehrpersonen ist sicher, eine fordernde und fördernde Beziehung zu ihren Schülerinnen und Schülern aufzubauen, die auf Anerkennung basiert. Es wäre wichtig, dass sie die soziale Integration, die Dynamiken in der Klasse, im Auge behält , und ihren Unterricht fachdidaktisch angemessen gestaltet. Und das ist eigentlich schon recht viel, wenn man bedenkt, in welcher Realität Lehrpersonen arbeiten. In jeder Klasse der Sekundarstufe gibt es rund 20% Jugendliche, die zu Hause physisch und psychisch misshandelt werden. Dann kann man sich als Physiklehrperson noch so vornehmen, die Lichtbrechung durchzunehmen; wenn vier Kinder der Klasse solche Erfahrung von Gewalt mit sich herumtragen, geht das einzig suboptimal.
«So wie die Kinder brauchen auch die Lehrpersonen ein tragendes Netz von Schulleitungen, Eltern und Öffentlichkeit. Wenn die Lehrpersonen gestützt werden, werden auch die Kinder gestützt.»
Damit kommen wir auf die Resilienz der Lehrperson zu sprechen. Wie kann man unter diesen Bedingungen arbeiten?
Der Lehrberuf ist ja grundsätzlich mit einer wunderbaren Zumutung verbunden, das macht ja den Beruf so anspruchsvoll und andererseits auch regelrecht grandios. Diese lautet, dass die Kinder unter anderem auch so gefördert werden, wie der Lehrplan es vorsieht. Wir sind aber keine Autohersteller, die, wenn es nicht funktioniert, einfach die Produktionsketten und Zulieferer ändern können. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es mit Individuen zu tun haben, die von komplexen sozialen Strukturen umgeben sind. So wie die Kinder brauchen auch die Lehrpersonen ein tragendes soziales Netz von Schulleitungen, Eltern und Öffentlichkeit. Wenn die Lehrpersonen gestützt werden, werden auch die Kinder gestützt. Man kann es nicht häufig genug erwähnen, dass Lehrpersonen ein positives und ihnen zugeneigtes gesellschaftliches Umfeld benötigen, um ihre Arbeit angemessen tun zu können. Da sind wir alle als Bürgerinnen und Bürger gefragt, da braucht es eine kritische, aber grundsätzlich wohlwollende Aufmerksamkeit gegenüber diesem Berufsfeld.
Wie beforscht man Resilienz?
Auf zwei Projekte kann ich da hinweisen: In einem internationalen kooperativen Projekt versuchen wir, die Dynamik bestehender Diskriminierungen von Jugendlichen mit Flüchtlings- oder Migrationshintergrund in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt besser zu verstehen und andererseits Massnahmen zur Überwindung von Ungerechtigkeiten zu erarbeiten. Mit quantitativen Methoden wie standardisierten Fragebögen untersuchen wir Schulerfolg, Zufriedenheit, psychische Stabilität dieser Jugendlichen. Zudem starten wir demnächst ein Projekt, in dem wir physische Gewalt in der Familie untersuchen, die etwa ein Viertel bis ein Fünftel der Kinder erlebt, was massive Folgen für den Unterricht hat. Wir fragen auch nach den Risikofaktoren, die wir minimieren müssen, damit die Erfolgsfaktoren überhaupt zum Tragen kommen. Ist jemand zu stark belastet, nützen alle Schutzfaktoren nichts. Mit dem bereits eingeführten Lawinenverbauungsbild gesprochen: Ist die Lawine zu umfangreich, schützt uns fast keine Verbauung mehr. Erst wenn die Risikofaktoren auf ein bewältigbares Niveau reduziert worden sind, greifen die Schutzfaktoren. Und die Risikofaktoren können übrigens durchaus auch von der Schule aus kommen. Auch hier gibt es Diskriminierungstendenzen, für welche die Schule manchmal blind ist. Daher ist die Resilienzforschung so wichtig. Wir wollen den Lehrpersonen und unseren Studierenden empirisch gestützte Empfehlungen anbieten, damit sie angemessen auf belastete Jugendliche zugehen können.
Wie sind Sie überhaupt auf das Forschungsthema Resilienz gekommen?
Mein damaliger Hochschullehrer Helmut Fend hat mir nahegelegt, mich mit den nicht erwarteten Sonderfällen auseinanderzusetzen. Es ging also nicht einzig um den Mittelwert, sondern um die Beachtung von «Standardabweichung», einem statistischen Kennwert, der grob formuliert darüber Auskunft gibt, wie unterschiedlich die Antworten bzw. die Erfahrungen Jugendlicher ausfallen. Wir hatten immer wieder Jugendliche in den erfolgreichen Gruppen, bei denen wir anfänglich gedacht haben, die kriegen’s nicht hin. Mit der Zeit wollte ich wissen, warum sie wider Erwarten die Ziele erreicht haben.
Welchen Einfluss hatte dabei Ihre eigene Berufsbiografie?
Die mag hintergründig schon mitgewirkt haben, sonst hätte ich mich vielleicht weniger für die Thematik begeistert. Möglicherweise hatte ich in meiner Berufsbiografie ebenfalls resiliente Momente, das sage ich nun mit aller gebotenen Vorsicht. Ich wollte beispielsweise nie ans Gymnasium, das schien mir zu langweilig. Im Nachhinein bedauere ich das ein bisschen, aber eben die Jugendsünden! Ich wollte dagegen in eine grosse Stadt, weg aus dem Appenzell, und fand dann eine Lehrstelle in Basel als Chemielaborant. Nach der Lehre habe ich aber gemerkt, dass das für mich noch unbefriedigend war, obwohl das berufliche Umfeld durchaus sehr ansprechend war. Ich war sehr motiviert, mit fünfundzwanzig ein Studium aufzugreifen, und habe die Maturität nachgeholt. Ohne die staatliche Hilfe in Form eines Stipendiums für das Pädagogikstudium an der Universität Zürich wäre diese Motivation aber versickert. Aber eigentlich ist das Thema Resilienz bereits selbst so interessant und vielseitig, da käme ich wohl auch ohne individuellen biografischen Bezug dazu.
Wassilis Kassis ist Professor für Pädagogische Psychologie und Leiter des Instituts Forschung und Entwicklung an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Er forscht zu sozialen Resilienzfaktoren, zu Jugendgewalt und Rechtsextremismus. |