Warum Soziale Arbeit und Gesundheitsversorgung stärker zusammenarbeiten müssen
Menschen in sozial benachteiligter Lage scheinen schneller zu altern. Sie erkranken häufiger und früher an chronischen Krankheiten als privilegierte Menschen. Zudem nehmen ihre Erkrankungen oft einen schlechteren Verlauf, was Spitalbehandlungen notwendig macht. Die Berücksichtigung der sozialen Lage ist in diesem Zusammenhang zentral.
Auch in der reichen Schweiz mit ihrem gut ausgestatteten Gesundheitssystem existiert eine starke Ungleichheit der Chancen auf eine gute Gesundheit und ein langes Leben, wobei die soziale Lage einer Person eine wichtige Rolle spielt. Wer in eine armutsbetroffene, bildungsferne Familie hineingeboren wird, hat später ein deutlich erhöhtes Risiko, an einer oder mehreren chronischen Krankheiten zu leiden und vorzeitig zu sterben. Das Institut Soziale Arbeit und Gesundheit der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW untersucht im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 74 «Versorgungsforschung» die Frage: Haben sozial benachteiligte Personen ein grösseres Risiko, dass chronische Erkrankungen schlechter verlaufen und eine Spitalbehandlung notwendig wird?
Die Ergebnisse der SIHOS-Studie (Social Inequalities and Hospitalisations in Switzerland) zeigen, dass bei bestimmten chronischen Krankheiten eine geringe Schulbildung oder der Umstand, dass jemand alleine wohnt – und damit in der Regel über weniger soziale Unterstützung verfügt – das Risiko für eine Spitaleinweisung erhöhen. Bei anderen Krankheiten hingegen zeigen sich diese Unterschiede nicht. Eine Auswahl wichtiger Ergebnisse der SIHOS-Studie wurde vom Schweizerischen Gesundheitsobservatorium veröffentlicht (obsan-Bericht 11/2020).
In dieser Abbildung sieht man, wie sich das Risiko, wegen Diabetes hospitalisiert zu werden, über die Lebensspanne hinweg entwickelt. Bei Personen, die nach der obligatorischen Schulzeit keine berufliche oder weiterführende Schule besucht haben, steigt die Kurve deutlich früher an als bei Personen mit Tertiärausbildung (Quelle: Bayer-Oglesby et al., 2020).
Prekäre Lebenslagen erschweren die Heilung
Welche Bevölkerungsgruppen sind besonders vulnerabel, also anfällig für eine frühe Entstehung und einen ungünstigen Verlauf von chronischen Krankheiten? Vulnerabilität kann als Folge eines Mangels an Ressourcen in einem oder mehreren Lebensbereichen einer Person verstanden werden. Ressourcenreichtum oder -mangel entsteht in der Wechselwirkung eines Individuums mit seinem Umfeld und ist damit auch immer gesellschaftlich und politisch bedingt. Personen mit geringen Ressourcen in Form von Schulbildung, Einkommen oder sozialer Unterstützung sind verstärkt Belastungen (z. B. chronischem Stress, schlechten Wohnverhältnissen und Arbeitsbedingungen) ausgesetzt. Dazu kommt, dass sie sich öfters in einer sozialen Umgebung befinden, in der schädliches Gesundheitsverhalten (Rauchen, ungesunde Ernährung usw.) verbreitet ist und als normal gilt.
Personen mit geringen Ressourcen haben zusätzlich weniger gute Möglichkeiten, mit Belastungen umzugehen und Krisen zu bewältigen. Dies zeigt sich deutlich im Verlauf derjenigen chronischen Krankheiten, die als sogenannt «Ambulatory Care Sensitive» gelten, wie zum Beispiel Diabetes, Herzinsuffizienz, chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) und Asthma. Der Verlauf dieser Krankheiten kann bei guter ambulanter Betreuung und Selbstmanagement in der Regel stabil gehalten und eine Spitaleinweisung vermieden werden. Voraussetzungen dafür sind eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Fachpersonen und Erkrankten, aber auch ein entsprechender Handlungsspielraum bei den Betroffenen selbst (z. B. in Bezug auf die Anpassung von Arbeitsplatzbedingungen, Änderungen des Lebensstils).
Eine gelingende Krankheitsbewältigung ist für Personen in vulnerabler Lage ungleich schwieriger zu erreichen und oft nur dann realistisch, wenn sie Entlastung und Unterstützung in Lebensbereichen erhalten, die für den Umgang mit der Krankheit wichtig sind. Chronische Krankheiten führen bei vulnerablen Personen oft zu zusätzlichen existenziellen Problemen (Arbeitsplatzverlust, Schwierigkeiten, den familiären Anforderungen gerecht zu werden, finanzielle Sorgen, Rückzug vom sozialen Netz und Einsamkeit). Damit entsteht ein Teufelskreis, der eine Heilung oder wenigstens eine Stabilisierung des gesundheitlichen Zustands verunmöglicht. Für vulnerable Personengruppen, die wegen einer chronischen Erkrankung behandelt werden, wäre es demnach oft genauso wichtig, Unterstützung und Entlastung in sozialen und sozioökonomischen Aspekten zu erhalten, wie das richtige Medikament verschrieben zu bekommen.
Gesundheitsfachpersonen haben zu wenig Zeit für vulnerable Personen
In Fokusgruppen, die als Teil der SIHOS-Studie durchgeführt wurden, haben Gesundheitsfachpersonen vielfach geäussert, dass sie im geltenden Finanzierungssystem nicht genug Zeit haben, um auf Patientinnen und Patienten einzugehen, die sie als vulnerabel wahrnehmen. Ausserdem fühlen sie sich oft überfordert mit mehrdimensionalen und komplexen Problemen, die über ihren Zuständigkeitsbereich hinausgehen. Ebenfalls in Fokusgruppen befragte erkrankte Personen äussern den Wunsch, während des Spitalaufenthalts und darüber hinaus konstant von einer Fachperson begleitet zu werden. Dahinter steht ein hoher Bedarf nach Orientierung im komplexen Behandlungssystem und die Notwendigkeit, den Zugang zu Hilfsangeboten zu finden, die krankheitsbedingte Probleme im Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz, der Überlastung des familiären Systems sowie der finanziellen Existenzsicherung lösen oder zumindest abfedern könnten. Interviews mit Patienten und Patientinnen im Rahmen der ALIMEnt-Studie, die ebenfalls vom Institut Soziale Arbeit und Gesundheit durchgeführt wird, haben gezeigt, dass gesundheitsbezogene Soziale Arbeit im Rahmen der interprofessionellen Zusammenarbeit mit Fachpersonen des Gesundheitswesens eine solche Rolle einnimmt. Die für Soziale Arbeit typische Verbindung von individualisierter Begleitung und Beratung mit der gezielten Erschliessung von materiellen Ressourcen schafft wichtige Voraussetzungen für die Krankheitsbewältigung auf psychischer, sozialer und sozioökonomischer Ebene. Patienten und Patientinnen, die derart unterstützt werden, nehmen eine positive Wirkung auf ihre Lebensqualität wahr, die auch durch objektive Messungen bestätigt wird.