12.5.2021 | Pädagogische Hochschule
Ein Schatz, den es zu heben gilt
Viele Schüler*innen haben andere Erstsprachen als Deutsch. Emanuel Brito nutzt diese Ressource in seiner 5. Klasse im Deutsch- und Fremdsprachenunterricht.
Donnerstagmorgen, erste Lektion. Deutschunterricht in einer 5. Klasse am Basler Gotthelf-Schulhaus. Lehrer Emanuel Brito liest zum Einstieg eine Geschichte vor. Miro der ours kommt darin vor, andere animals des Waldes ebenso. Und es riecht nach printemps. Die Schüler*innen hören aufmerksam zu und zählen anschliessend auf, welche Sprachen sie erkannt haben – neben Englisch und Französisch auch Spanisch, Italienisch und Portugiesisch.
Emanuel Brito lässt die Erstsprachen der Kinder – eine kurze Umfrage ergibt eine lange Liste von Schweizerdeutsch und Deutsch über Italienisch und Spanisch hin zu Albanisch, Kreolisch, Kurdisch, Lingala, Polnisch oder Tschechisch – immer wieder im Unterricht einfliessen. «Die Erstsprachen sind ein Schatz, der in den Kindern steckt», sagt er.
Aufmerksam wurde er auf den Ansatz, Erstsprachen im Deutsch-, Englisch- oder Französisch-Unterricht sichtbar zu machen im Studium an der PH FHNW. Dort gibt es etwa die Projekte «Sprachenausstellung zur Mehrsprachigkeit in der Schweiz» (SAMS) oder «Français pour les bilingues» (vgl. unten), die diesen Ansatz aufgreifen. «Man muss am sprachlichen (Vor-)Wissen andocken, welches die Kinder mitbringen», betont Katja Schnitzer, Dozentin an der Professur Deutschdidaktik und ihre Disziplinen und Co-Leiterin des SAMS-Projekts.
Auch der Lehrplan 21 weise auf die Wichtigkeit der Erstsprachen hin, so Schnitzer. Dort heisst es etwa: «Jedes Kind bringt die eigene Sprachbiografie und eigene Voraussetzungen mit, die in der schulischen Bildung berücksichtigt werden sollen. Jede Sprache, die ein Kind mitbringt und dazu lernt, hat ihren Wert. Die Wertschätzung der Erstsprache stärkt die (sprachliche) Identität, die Bewusstheit für weitere Sprachen und das Sprachenlernen.»
Allerdings wüssten viele Lehrpersonen noch nicht, wie sie die Erstsprachen in den Unterricht einfliessen lassen könnten, hat Schnitzer beobachtet. «Im Projekt SAMS entwickeln wir deshalb gemeinsam mit den Studierenden Materialien, setzen sie im Unterricht ein und reflektieren darüber. Und wir bauen ein Netzwerk auf, das den Austausch von Erfahrungen ermöglicht.»
«Für viele Kinder sind die Sprachen klar getrennt. Die Erstsprache ist für zuhause, Deutsch für die Schule.»
Wie die Umsetzung im Deutschunterricht aussehen kann, zeigt Emanuel Brito im weiteren Verlauf seiner Deutschlektion. In «Forscher*innen-Gruppen» erhalten die Schüler*innen eine kurze türkische Geschichte zur Bearbeitung. Die türkischsprechenden Kinder werden damit für den Verlauf dieser Stunde zu Expert*innen – Freude und Stolz darüber sind unverkennbar. Sie übernehmen in den Gruppen sofort die Führung, lesen vor, beantworten Fragen und loben Mitschüler*innen für ihre Vorleseversuche.
Schon bald finden die Schüler*innen heraus, dass im Türkischen die Pluralform von Substantiven mit der Endung «-lar» gebildet wird. Im Plenum werden danach Vergleiche gezogen zu spanischen und englischen Mehrzahlendungen und zur Pluralbildung in der deutschen Sprache. Nicht alle Kinder können spontan erklären, wie die Pluralform in ihrer Erstsprache gebildet wird.
«Das erleben wir immer wieder», sagt Katja Schnitzer später. «Für viele Kinder sind die Sprachen klar getrennt. Die Erstsprache ist für zuhause, Deutsch für die Schule.» So gingen fruchtbare Vergleichsmöglichkeiten verloren, ist sie überzeugt. «Deshalb ist es wichtig, die Sprachen der Schüler*innen immer wieder vergleichend heranzuziehen und Sprachvergleiche als allgemeines didaktisches Prinzip zu verstehen.»
Emanuel Brito bestätigt dies – und erinnert sich an seine Schulzeit. «Meine portugiesische Erstsprache wurde nie thematisiert. Ich habe mich sogar fast dafür geschämt.» Und weiter: «Zwar habe ich schon in der Schule gemerkt, dass mir das Lernen von Sprachen liegt, aber das Potenzial des Vergleichens wurde mir erst während des Studiums bewusst.»
Das soll seinen Schüler*innen nicht passieren. «Dass ich in Lektionen so umfangreich auf die Erstsprachen der Kinder eingehe wie heute, kommt nicht oft vor. Aber ich rege sie immer wieder zum Vergleichen an, vor allem auch dann, wenn ich merke, dass sie Fehler begehen, die möglicherweise darauf zurückzuführen sind, dass es in ihrer Erstsprache anders gemacht wird.»
Diesen Ansatz vertritt auch Marta Oliveira, Dozierende an der Professur Französischdidaktik und ihre Disziplinen. «Es gibt in den verschiedenen Sprachen Ähnlichkeiten in Bezug auf Wortschatz und Grammatik. Man kann sowohl die Gemeinsamkeiten, als auch die Unterschiede herausarbeiten und Lehren daraus ziehen. So kann es sogar vorkommen, dass Kinder im Deutsch-, Französisch- oder Englischunterricht etwas in ihrer Erstsprache lernen.»
Bleibt die Frage, ob und wie gut man die Erstsprachen der Kinder beherrschen muss, um sie im Unterricht einzubeziehen. «Mir macht es grossen Spass, jeweils ein paar Wörter, etwa Begrüssungsformeln oder Zahlen, zu lernen», sagt Emanuel Brito. Beherrschen müsse man aber die Sprachen nicht, bei einfachen grammatikalischen Regeln helfen etwa spezifische Publikationen, das Internet oder der Austausch mit Lehrpersonen der Kurse «Heimatliche Sprache und Kultur» (HSK). Auch die Schüler*innen und deren Eltern können helfen. «Es braucht höchstens etwas Mut, seinen eigenen Expertenstatus für eine kurze Zeit abzugeben.» Im Gespräch mit den Kindern liessen sich dann viele Regeln herleiten. Katja Schnitzer fügt an, dass es auch immer mehr PH-Studierende oder Lehrpersonen gibt, die andere Erstsprachen als Deutsch sprechen. «Auch für sie gilt es, diese Ressource, diesen Schatz zu nutzen.»
Über die Projekte
SAMS
Im SAMS-Projekt der PH FHNW werden Unterrichtsmaterialien entwickelt, die es ermöglichen, die Erstsprachen der Schüler*innen im Unterricht einzusetzen. So sind fixfertige Materialkisten entstanden, die ausgeliehen werden können. Weiter stehen auf der Website Unterrichtsmaterialien zum Download bereit. Überdies entsteht durch das Projekt ein Netzwerk an Lehrpersonen – bislang zumeist ehemalige Studierende – welche die Erstsprachen ihrer Schüler*innen im Unterricht sichtbar machen und so auf die Vielfalt an sprachlichen Ressourcen eingehen.
Auch Schulen und Pädagogische Hochschulen in der Deutschschweiz gehören zum Netzwerk. Seit 2016 steht SAMS Schulen und Schulklassen bei der Planung von Mini-Projekten oder Projektwochen beratend zur Seite und bringt dabei verschiedene Akteure – etwa Bibliotheken, Vereine oder Studierende – zusammen.
Français pour les bilingues
Im Projekt «Français pour les bilingues» liegt der Fokus auf Kindern mit französischer Erstsprache. «Primarschüler*innen, die zuhause Französisch sprechen, sind im Fremdsprachenunterricht oft unterfordert und auch die Lehrpersonen kommen zuweilen an ihre sprachlichen Grenzen», sagt Marta Oliveira. Es sei aber wichtig, dass die Kinder im Unterricht bleiben. «Das ist auch für die anderen Schüler*innen eine Bereicherung.» Im Zusatzangebot «Français pour les bilingues» werden sie altersgerecht gefördert und bald gibt es Zusatzmaterialien, die sie im normalen Unterricht in Phasen der Unterforderung bearbeiten können. Bereits jetzt stehen Unterrichtsmaterialien in Parcoursform zum Download bereit.
Text und Foto: Marc Fischer
Der Artikel erschien in der Ausgabe 5 / 2021 von «Das Heft» zu «Integration – Inklusion».