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15.5.2024 | Pädagogische Hochschule

«Leseförderung geht uns alle an»

Systematische Leseförderung: Das Zentrum Lesen der Pädagogischen Hochschule FHNW und das Amt für Volksschule Basel-Landschaft entwickelten ein gemeinsames Projekt. Derzeit läuft die Pilotphase.

Nicht nur im Kanton Basel-Landschaft, auch gesamtschweizerisch zeigten die Überprüfung der Grundkompetenzen (ÜGK 2017) sowie die Pisa-Studien 2018 und 2022 punkto Lesekompetenzen ein ernüchterndes Bild: Knapp ein Viertel der Schüler*innen erreichen die Grundkompetenzen nicht. Sie haben somit einen grundsätzlichen Nachteil, wenn es darum geht, in der Schule mitzukommen und im weiteren Sinne am gesellschaftlich-kulturellen Leben teilzuhaben. Aufgrund dieser Resultate hat sich im Kanton Basel-Landschaft politisch etwas in Bewegung gesetzt: Unter dem Label «Zukunft Volksschule» fliessen bis 2028 rund 60 Millionen Franken in schulische Projekte und in die Weiterbildung von Lehrpersonen, ein Teil davon in die Leseförderung, um dem ausgewiesenen Förderbedarf zu begegnen.

Leandra Pronesti leitet seitens des Amts für Volksschulen Basel-Landschaft das Teilprojekt Leseförderung, in welchem sie für die Begleitung der Pilotschulen und die Weiterbildung der Lehrpersonen mit dem Zentrum Lesen der Pädagogischen Hochschule FHNW zusammenarbeitet. «Mittlerweile ist aus dem Projekt ein Programm geworden, welches verschiedene Massnahmen durchführt», erzählt Pronesti. Lesen sei eine Schlüsselkompetenz, und man hätte erkannt, dass man diese nicht nur individuell, sondern systematisch fördern sollte. «Die Kinder nur zum Lesen animieren reicht nicht, wir müssen strukturell beim Unterricht und bei der Schule stufen- und fächerübergreifend ansetzen.» Derzeit stehen sieben Pilotschulen im Fokus, die sich Leseförderung als institutionellen Schwerpunkt gesetzt haben und während vier Jahren (das Projekt befindet sich im zweiten Jahr) diese mittels Schul- und Unterrichtsentwicklung im Schulprogramm verankern.

Gemeinsame Haltung entwickeln

Wie beim allgemeinen Schulerfolg zeigt sich auch bei der Lesekompetenz, dass der Faktor der sozio-demografischen Herkunft der Schüler*innen zusätzlich ins Gewicht fällt: Vor allem für Kinder und Jugendliche aus Familien mit tieferem sozio-ökonomischem Hintergrund, oder aus schriftfernen Familien ist es schwieriger, die Grundkompetenzen im Lesen zu erreichen. In Bezug auf die Ergebnisse aus Pisa und ÜGK sagt Afra Sturm, Leiterin des Zentrums Lesen: «Das System Schule hat noch keine schlüssigen Antworten gefunden, wie es leseschwache Kinder und Jugendliche fördern kann.» Einfach zu sagen, das seien halt Kinder aus schriftfernen Familien, und dann nichts unternehmen, das könne sich eine Gesellschaft nicht leisten. Es sei Aufgabe der Schule, die leseschwächeren Kinder speziell zu fördern, um ihnen Bildungserfolge zu ermöglichen. Und: Durch eine systematische Förderung würden auch die lesestärkeren Schüler*innen profitieren. «Zuallererst geht es darum, an einer Schule ein gemeinsames Bewusstsein, eine Haltung zu entwickeln. Lesen ist eine Kompetenz, die in allen Fächern gefragt ist. Leseförderung geht uns alle an.»

Je nach Fach brauchen die Schüler*innen unterschiedliche Lesestrategien, die sie nur in den jeweiligen Fächern erwerben können. Um eine Mathe-Aufgabe richtig zu verstehen, müssen sie anders vorgehen, als wenn sie einen Text in Biologie oder Geschichte bearbeiten müssen. Das Fach Deutsch kann diese fachspezifischen Lesestrategien nicht vermitteln. Entsprechend wird das Projekt Leseförderung von verschiedenen Akteur*innen mit verschiedenen Rollen in die Breite getragen.

Eine zentrale Funktion haben die sogenannten Lesebeauftragten, die wie Botschafter*innen ins Kollegium hineinwirken. Sie bilden mit der Schulleitung und einer Auswahl an Lehrpersonen eine Steuergruppe, die zu Beginn eine Standortbestimmung vornimmt, sowie Ziele, Massnahmen und die operative Umsetzung plant. Im zweiten Jahr des vierjährigen Projekts gibt es eine erste schulinterne Weiterbildung, in die sämtliche Lehrpersonen involviert sind. Darauf erfolgen Praxisaufträge, die alle in ihre Bereiche mitnehmen und im Erfahrungsaustausch und an Netzwerktreffen reflektieren.

Drei Förderbereiche

Inhaltlich umfasst das Projekt, vereinfacht gesagt, drei Förderbereiche. Auf der Basis-Ebene (vor allem Primarstufe) geht es darum, die Leseflüssigkeit zu fördern. Nur wer flüssig lesen kann, hat genügend Ressourcen, Texte zu verstehen. Lautlesetandems sind zum Üben besonders geeignet. Auf der Vertiefungsebene geht es bereits Richtung Lesestrategien: Im Sinne einer Voraktivierung sollen die Schüler*innen ihre Erwartungen und ihr Vorwissen zum Text klären. Während oder nach dem Lesen können sie in der Diskussion miteinander Schlüsselstellen identifizieren und gemeinsam interpretieren.

«Hierbei lernen die Schüler*innen, dass Lesen ein aktiver Prozess ist. Die Buchstaben und Wörter wandern nicht einfach von alleine in den Kopf und machen dann Sinn», erklärt Afra Sturm. Beim Lesen müssen Erwartungen und Weltwissen mit dem Text laufend abgeglichen werden. Diskussionen über das Gelesene helfen Schüler*innen, Denkansätze und eigene Fragen zu entwickeln. Auf der dritten Ebene geht es um den Transfer: Wie können Schüler*innen ihre Lesestrategien auf neue Texte anwenden, wie bringen sie mehrere Texte zu übergeordneten Fragestellungen zusammen, wie schätzen sie Glaubwürdigkeit und Relevanz ein?

Gelingende Übergänge

Laut Leandra Pronesti haben sich von den 87 Baselbieter Volksschulen bereits 82 Lehrpersonen verpflichtet, die Weiterbildung zur Leseförderung zu besuchen. Sie werden an ihren Schulen die Rolle der Beauftragten übernehmen. Gian Bollinger gehört zu diesen Lehrpersonen. Der Schulische Heilpädagoge betreut mit einer Kollegin an der Primarschule Liestal fünf Schulhäuser. Liestal ist eine der kantonalen Pilotschulen.

Gemeinsam haben sie die ersten Schritte des Projekts initiiert, die Bedürfnisse des Kollegiums abgeholt, erste Treffen organisiert. Derzeit fokussiert Bollinger auf die Themen Lesetandem und Wortschatz. «Die Schüler*innen können diese Leseübungen gut annehmen, sie sind schon fast selbstverständlich.» Während der Weiterbildung kam Bollinger in Kontakt mit Kolleg*innen aus der Sekundarstufe. «Es war interessant zu sehen, wie die Leseförderung bei ihnen weitergeht. Wir können uns vorstellen, in Zukunft unsere jeweiligen Konzepte untereinander auszutauschen, damit der Übergang gut gelingt.»

Dominique Gut ist Beauftragte an der Primarschule Itingen. Sie hat im eigenen Unterricht selbst festgestellt: «Wenn die Schüler*innen am Ende des 2. Zyklus weniger als 100 Wörter pro Minute lesen können, wird es mit dem Leseverständnis schwierig.» Ihr ist klar, dass die Schule für die Kinder eine Grundlage schaffen muss, damit sie in allen Fächern Fortschritte machen können. Als Beauftragte hat sie gemeinsam mit der Schulleitung bereits eine Evaluation an ihrer Schule durchgeführt. Dabei ging es um die Einschätzung der Lesekompetenzen, um Erfahrungen der Lehrpersonen in der Leseförderung sowie um die Erfassung der Diagnoseinstrumente, die bereits eingesetzt werden. «Interessant war, dass die Leseförderung ziemlich unterschiedlich gehandhabt wird, diese aber von allen Lehrpersonen als sehr wichtig erachtet wird.»

Dominique Gut möchte nun im Leseförderkonzept, in das die Resultate einfliessen, vor allem den Einsatz von (teil-)standardisierten Verfahren zur Lernstandsermittlung verankern. Denn: «Wenn wir Diagnoseinstrumente in der Breite einsetzen, können wir Kinder mit Schwierigkeiten entdecken, von denen wir bisher noch nichts wussten. Zudem lassen sich damit für alle Verbesserungen visualisieren. Und das trägt auch zur Motivation bei.»


Der Artikel erschien in «Das Heft», Ausgabe Nr. 11 (2024) zum Thema «Praxisbedeutsamkeit».

Text: Michael Hunziker

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