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16.5.2024 | Hochschule für Soziale Arbeit, Institut Integration und Partizipation

Klar und verständlich: Leichte Sprache in Literatur und Alltag

Bücher, Rechnungen, Abstimmungsunterlagen, Zeitungsartikel – knapp 2 Millionen Menschen in der Schweiz haben Mühe, Texte zu lesen und zu verstehen. Leichte Sprache hilft hier. Während Behörden schon länger damit arbeiten, beginnt in der Kultur die Auseinandersetzung erst. Am 28. Mai fand in Olten eine Lesung und Buchvernissage dazu statt.

Buchstaben sind wild und chaotisch angeordnet

Sprache muss nicht kompliziert sein. Leichte Sprache hilft, Behördliches besser zu verstehen und kann auch literarisch Erstaunliches hervorbringen.

In der Post liegt ein Brief der Kantonspolizei. «Vornehmen einer Verrichtung, welche die Bedienung des Fahrzeuges erschwert» - Alles klar? Ein Fünftel der Wohnbevölkerung der Schweiz versteht nicht, was das Vergehen war: Telefonieren während des Autofahrens. Betroffen sind Menschen, die vorübergehend oder dauerhaft eingeschränkte Lesekompetenzen haben: Menschen mit einer Behinderung, ältere Menschen, aber auch Menschen mit Deutsch als Fremdsprache oder Menschen, die wenig lesen.

Dass Amtssprache oder Juristendeutsch kompliziert ist, überrascht nicht. Dabei ist «Leichte Sprache» im behördlichen Kontext besonders wichtig. 2013 wurde das neue Erwachsenenschutzrecht verabschiedet, 2014 die UN-Behindertenrechtskonvention anerkannt. Beide Rechtsrahmen verpflichten zur Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens. Behörden bemühen sich schon länger um barrierefreie Kommunikation, wenn auch mit gemischtem Erfolg. Jüngst hat die Aufarbeitung der COVID-19-Pandemie bei Menschen mit Behinderungen Kommunikation in Leichter Sprache als ein Versäumnis in Institutionen aufgezeigt. Umgekehrt formuliert das Stadtrichteramt Winterthur seit 2020 ihre Briefe in Leichter Sprache – mit der Folge, dass innert wenigen Monaten CHF 200 000 mehr an Bussen bezahlt wurden.

Ein Leben über Bürokratie hinaus

Aber zeichnet sich eine inklusive Gesellschaft nur durch bürokratische Prozesse aus? Zeitungsartikel, Best Sellers, Radio – Sprache umgibt uns überall. Darunter gibt es kaum Leichte Sprache. Kein Harry Potter, keine Reportagen, keine News. Ein herausragendes Gegenbeispiel ist das 2023 erschienene Buch von Christoph Keller. Als Autor hat er zahlreiche Romane, Theaterstücke und Essays geschrieben, in der Schweiz und in den USA, wo er während 20 Jahren lebte – alles andere als leichte Kost. Der Geschichtenband «Und dann klingelst du bei mir» (Limmat Verlag) zeigt aber eindrücklich, dass Literatur in Leichter Sprache möglich ist. «Ich wollte herausfinden, ob etwas, auch wenn es dermassen reduziert ist, Literatur sein kann» sagt Christoph Keller, «auch um der Leichten Sprache diesen ‘Geruch’ wegzunehmen, dass es dann einfach banal ist».

In Schweden und Finnland hat sich Leichte Sprache (genannt Lättläst (SWE) bzw. Selkokieli (FIN)) bereits stärker etabliert. In Schweden gibt es eine eigene Zeitung, in Finnland Radio-News, Geschichten und Bücher geschrieben in Leichter Sprache. Auch in Deutschland trifft man häufiger Webseiten an, die als Sprachoption «Leichte Sprache» anbieten. Diese Beispiele zeigen, wohin die Entwicklung in der Schweiz gehen könnte: Rechtliche Prozesse müssen vollständig in Leichter Sprache verfügbar sein, in der Kultur soll es ein reichhaltiges Angebot geben: «Wichtig ist, dass es ein gutes Angebot gibt, eine gewisse Reichhaltigkeit. So dass Leute mit unterschiedlichen Kompetenzen und Interessen sich mit verschiedenen Texten und Textformen auseinandersetzen können» sagt Prof. Gabriela Antener.

Einfacher ist besser

Gabriela Antener ist Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und arbeitet zu adressatengerechter und barrierefreier Kommunikation. Sie beforscht und begleitet Ämter und Behörden bei der Übersetzung von Texten in Leichte Sprache. Eine Erfahrung, die sie dabei immer wieder macht: «Die Ämter können rückblickend fast nicht glauben, dass sie früher so schwer verständlich geschrieben haben».

In juristischen Kontexten ist Leichte Sprache entscheidend, denn ohne Verständnis der Materie ist die Vertretung der eigenen Interessen unmöglich. Eine systematische Untersuchung in Vormundschafts- oder Erwachsenenschutzmassnahmen seit 1970 zeigte, dass sich die Behörden zwar bemühten adressatengerecht zu kommunizieren, es aber bis heute keine verbindlichen Standards gibt. Wo eine solche Kommunikation nicht gelingt, fällt die Verantwortung für die Aufklärung und Vermittlung, anstelle von Fachpersonen, der Familie und Angehörigen zu.

Kann Literatur in Leichter Sprache zu einem besseren Umgang beitragen? Vielleicht. Eine stärkere Sichtbarkeit von Leichter Sprache auch ausserhalb behördlicher Abläufe – im Alltag und in der Kultur – würde uns alle für dieses Bedürfnis sensibilisieren. Denn in der Schweiz gibt es noch Luft nach oben bei der Leichten Sprache, ob als Informationsvermittlung oder als Ausdrucksform.

28. Mai 2024 – Tag der Leichten Sprache

Am 28. Mai 2024, dem Tag der leichten Sprache, fand an der FHNW in Olten eine Lesung mit Christoph Keller und die Buchvernissage eines neuen Standardwerkes zur Umsetzung von Leichter Sprache statt. Eine Auseinandersetzung mit Leichter Sprache lohnt sich für jene, die leicht verständliche und klare Sprache schätzen und für jene, die einfach verstanden werden wollen. Wer den Event verpasst hat, findet in diesem Interview mit Prof. Gabriela Antener und Christoph Keller ihre Perspektiven auf das Schreiben in Leichter Sprache.Hinweis auf den Tag der Leichten Sprache und zwei Buchcovers


Weitere Informationen rund ums Thema Leichte Sprache

Buch «Und dann klingelst du bei mir» (Limmat Verlag) von Christoph Keller
Buch «Leichte Sprache. Grundlagen, Diskussionen und Praxisfelder»
Fachseminar Leichte Sprache
www.barrierefreie-kommunikation.ch

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