Vereinbarkeit von Ärzteberuf und Privatleben im Spital – (auch) eine Frage der Kultur!
Heute existieren zahlreiche Massnahmen, um die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben in Spitälern zu fördern. Jedoch gelingt nicht immer deren Umsetzung, insbesondere wenn es um die Ärzteschaft geht. In einem aktuellen Projekt der FHNW werden in diesem Zusammenhang kulturelle Dimensionen am Arbeitsplatz Spital in den Vordergrund gestellt. Gemeinsam mit Gesundheitsbetrieben wird ein Entwicklungsprozess angestossen, der insbesondere auf kultureller Ebene die Modernisierung der Arbeits- und Laufbahnbedingungen im Ärzteberuf unterstützt.
Brigitte Liebig & Julia Frey, Januar 2022
In Schweizer Spitälern wurden in den vergangenen Jahren vielerorts Initiativen ergriffen, um flexible und familienfreundliche Arbeitsbedingungen zu fördern. In Anbetracht des anhaltenden Mangels an Ärztinnen und Ärzten wird vermehrt versucht, die Attraktivität der Spitäler als Arbeitsort mit Angeboten im Bereich der Kinderbetreuung oder neuen Arbeitszeitmodellen zu steigern. Bis heute aber ist es noch nicht überall gelungen, Veränderungen zu bewirken: Kaderärzte und -ärztinnen der öffentlichen und privaten Spitäler arbeiten in der Regel weiterhin 60 Stunden pro Woche (Lövblad et al., 2020). Unter den Assistenz- sowie Oberärztinnen und Oberärzten steht jede zweite Person im Wochenschnitt über 50 Stunden im Dienst (vsao, 2020), und in einigen Bereichen der Medizin, wie etwa der Chirurgie, sind Teilzeitstellen eine Seltenheit.
«Berufung» als tragender Pfeiler der Spitalorganisation
Die Gestaltung vereinbarkeitsfreundlicher Arbeitsbedingungen in Spitalbetrieben ist anspruchsvoll: Teilzeitstellen oder Jobsharing-Modelle generieren einen zusätzlichen Koordinationsaufwand und stellen die Dienstplanung vor zusätzliche Herausforderungen.
Weitaus bedeutsamere Barrieren für ein vereinbarkeitsorientiertes Arbeitsumfeld aber stellen kulturell verankerte, normative Auffassungen zu Arbeit, Leistung und Laufbahnen der Ärzteschaft dar. Sie gründen auf einem historisch als «Berufung» ausgelegten Verständnis der ärztlichen Tätigkeit. In der beruflichen Praxis widerspiegelt sich dieses oft in einem selbstlosen, überdurchschnittlichen Einsatz, bei dem alles Ausserberufliche bzw. Private nur untergeordnete Bedeutung besitzen kann.
Eingeschrieben findet sich diese Berufsethik bis heute aber nicht nur in beruflichen Identitäten, sondern auch in den Strukturen und Prozessen der Spitalorganisation: Hier bildet die unausgesprochene Erwartung an die stete Verfügbarkeit der Ärzteschaft nicht nur kulturell die tragende Säule eines auf höchste Leistungsbereitschaft angewiesenen Organisationsalltags. Sie stellt auch die Grundlage von arbeitszeitlichen Erfordernissen (wie z. B. regelmässige Überstunden bzw. Überzeit) und überdurchschnittlichen Laufbahnerfordernissen dar, die Erfolg und Anerkennung im Rahmen einer teilzeitlichen Anstellung vielerorts noch erschweren.
Wie zeigt sich dies in der Praxis?
Hier zur Verdeutlichung zwei fiktive Beispiele:
- Im Spital A stehen berufliche Verpflichtungen an oberster Stelle. So herrscht verbreitet die Befürchtung, dass sich die im Teilzeitpensum beschäftigten Ärzte und Ärztinnen weniger in die Arbeit einbringen können und bereits durch die Ansprache dieses Themas mit der vorgesetzten Person werden Karrierehemmnisse erwartet.
- Im Spital B werden sowohl die beruflichen als auch die ausserberuflichen Verpflichtungen ernst genommen. Dies zeigt sich unter anderem in den Mitarbeitenden-Gesprächen. Darin ist es für die vorgesetzten Personen wie auch die Mitarbeitenden eine Selbstverständlichkeit, Herausforderungen der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben anzusprechen und allfällige Massnahmen zu ergreifen. Als Resultat wird Teilzeitarbeit über alle Hierarchiestufen gelebt.
Wie die Beispiele zeigen, unterscheidet sich der “Mindset” in den beiden Spitälern grundlegend. Die in den Organisationen verbreiteten Haltungen formen die Umgangsweisen mit Vereinbarkeitsthemen.
Personalverantwortliche gefragt
Implizite Aufforderungen zu einer uneingeschränkten Aufopferung für den Beruf dürfen jedoch nicht das Denken und Handeln im Spitalbetrieb bestimmen: Denn sie resultieren viel zu oft in einen Ausstieg aus dem Beruf, wenn nicht in Überlastungssymptome wie «Burn-out» oder Suchterkrankungen, und sie erhöhen die Gefahr von Fehlern (Richter-Kuhlmann, 2017). Zugleich fördern überzogene Erwartungen an den beruflichen Einsatz Sichtweisen, die medizinische Karrieren von Ärztinnen und Ärzten mit einem Kinderwunsch oder mit familiären Verpflichtungen trotz bester Eignung beschränken.
Personalverantwortliche, Kaderärztinnen und -ärzte sowie Spitalleitungen sind deshalb gefragt, die Funktionsweisen eines auf «freiwillige Selbstausbeutung» (Krause, 2015) ausgerichteten Organisationsalltags kritisch zu hinterfragen. Sie sind wesentliche Akteure, wenn es darum geht, Lösungen für eine bessere Verknüpfung der «Sorge für andere» mit der «Sorge für sich selbst» - gerade für die Ärzteschaft - zu finden. Denn damit lässt sich nicht nur die mittel- und langfristige Leistungsfähigkeit der Spitalorganisationen fördern, es kann auch dem Wunsch einer neuen Generation von Ärztinnen und Ärzten nach mehr Ausgewogenheit von Beruf und Privatleben besser entsprochen werden.
Der Weg zum Ziel
Wie kann eine Kultur der Vereinbarkeit in der stationären Versorgung gezielt gefördert werden? In den kommenden Monaten erarbeiten wir dazu in einem Projekt mit vier Spitälern und einer Rehaklinik der Schweiz Massnahmen in verschiedenen Bereichen. Die nächsten Blogbeiträge zeigen Ihnen ausgehend von unseren Erfahrungen, weshalb und wo es sich lohnt anzusetzen und welche Schritte sich dabei besonders erfolgversprechend erweisen.
Literatur:
Hostettler, S., Hersperger, M. & Herren, D. (2012). Grundlagenpapier der DDQ: Ärztliches Wohlbefinden beeinflusst die Behandlungsqualität. Schweizerische Ärztezeitung, 93(18), 655-659.
Krause, A. (2015). Freiwillige Selbstausbeutung. Psychologie Heute. 42, 10. (2015, Oktober).
Lövblad, K. O., Eichenberger, T. & Gubler, M. (2020). Anstellungsbedingungen der Kaderärzteschaft an Schweizer Spitälern. Schweizerische Ärztezeitung, 101(42), 1350-1357.
Richter-Kuhlmann, E. (2019). Arbeitsbedingungen im Krankenhaus: Burn-out schon beim Nachwuchs. Deutsches Ärzteblatt; 116(48), 2222-2224.
Vsao (2020). Mitgliederbefragungen.
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