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19.2.2024 | Pädagogische Hochschule

«Auf einem Netz zu lernen ist cool»

Das Projekt «Netzwelten – Lernen in Bewegung» der PH FHNW bietet Lösungen gegen Bewegungs- und Platzmangel

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Eine Netzinstallation als Lernraum – hier in der Gemeinde Lichtensteig im Einsatz. Foto: Innosuisse

Neuartige Schulmöbel mit Netzhimmel, begehbare Netze als zweite Ebene im Schulzimmer oder auf dem Schulhausgang, Arbeitsplätze in einem Netz, bei denen man permanent in leichter Bewegung ist, weil man sich ausbalancieren muss: Im letzten Jahr war der Unterricht an den Primarschulen Allschwil BL und Lichtensteig SG für einzelne Schulklassen anders als gewohnt. Die beiden Schulen nahmen am Projekt «Netzwelten – Lernen in Bewegung » teil – und erprobten darin neuartige Netz-Lernlandschaften.

Entstanden ist die «Netzwelten»-Idee, um es Kindern zu ermöglichen, in Bewegung zu lernen und nicht nur statisch an Pulten zu sitzen, wie Karin Manz, Leiterin der Professur Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsforschung am Institut Primarstufe der PH FHNW, sagt. «Lernen in Bewegung kann den Lernfortschritt steigern und gleichzeitig das Risiko für gesundheitliche Probleme verringern», so Karin Manz weiter. Das Projekt wurde mit verschiedenen Projektpartnern aus der Wirtschaft umgesetzt und wissenschaftlich begleitet (vgl. Text unten). 

Arbeitsplätze für Partner- und Gruppenarbeiten

Romina Rüegsegger ist Lehrerin an der Primarschule Allschwil. Auf ihrer Etage sind die «Orbits», wie die neuartigen Netz-Möbel heissen, installiert – und so konnte sie mit ihren Erstklässlerinnen und Erstklässlern die «Netzwelt» von Beginn weg ausprobieren. «Wir nutzen die Arbeitsplätze insbesondere für Partner- und Gruppenarbeiten, aber auch für Erholungssequenzen, wenn die Kinder zum Beispiel in einer Spielpause im Klassenzimmer nicht genügend Ruhe finden, um ein Buch zu lesen», sagt Rüegsegger.

Für die Kinder sei diese Art der Arbeitsplätze etwas sehr Besonderes. «Nur unser Stockwerk hat diese Netzwelten aktuell im Schulhaus. Der Andrang war sehr gross und die Kinder wollten das Angebot gerne nutzen», betont sie. Es habe etwas Angewöhnungszeit gebraucht. «Zunächst nahmen die Kinder die Netze eher als Spielgerät wahr», sagt Romina Rüegsegger. «Es war deshalb wichtig, mit den Kindern auf dem gesamten Stockwerk Regeln festzulegen: Die Anzahl Kinder, die gleichzeitig darauf sein dürfen etwa, dass die Schuhe oder Finken ausgezogen werden und dass während der Unterrichtszeiten Lautstärkeregeln gelten. «Die Kinder halten sich nun sehr gut an diese Regeln und die Installationen haben sich im Schulalltag bewährt und etabliert», betont Rüegsegger.

Lesen, diskutieren, schreiben und spielen

Und wie werden die «Netzwelten» im Unterricht eingesetzt? «Die Netzwelt, in der Hängematten gespannt sind, eignet sich gut für Lesezeiten in Einzelarbeit oder einfach für eine kleine  Erholungspause. Die grösseren Installationen sind ideal für Gruppen- und Partnerarbeiten», beschreibt Romina Rüegsegger. «Dabei sind vor allem die erhöhten Plätze eine kleine Rückzugsmöglichkeit für die Kinder.» Karin Manz betont, dass sich «Netzwelten» eigentlich für alle Unterrichtsformen eignen. Insbesondere offene Lernsettings, bei denen die Schülerinnen und Schüler ihren Arbeitsort selbst wählen können, gewinnen durch den neuartigen Lernraum. Interessant ist, dass sich die Beziehung von Lehrpersonen und Kindern durch die Begegnung «auf Augenhöhe» im Netz verändern kann. Dies sei beispielsweise spürbar, wenn der Klassenrat mit der ganzen Klasse in der Netzwelt durchgeführt werde. Die Kinder entwickeln zudem selbst ein Gespür dafür, wofür die Netze geeignet sind, wie Aussagen im Film zeigen. «Im Klassenzimmer können wir tausendmal besser schreiben als im Netz. Und im Netz können wir tausendmal besser lesen, diskutieren und Spiele spielen», sagt ein Schüler. Und ergänzt: «Auf einem Netz zu lernen ist verrückt und cool.» 

Alternative bei Platzmangel

Angesprochen auf den Bewegungsdrang der Schülerinnen und Schüler sagt Romina Rüegsegger, dass die Lehrpersonen diesem ohnehin Rechnung tragen. «Kinder haben ein natürliches Bewegungsbedürfnis, welchem wir Lehrpersonen sehr bemüht sind, gerecht zu werden. Ich gebe mir immer sehr Mühe, dass der Unterricht nicht zu stark von Phasen der Stillarbeit im Sitzen geprägt ist, sondern auch Bewegung im Klassenzimmer stattfindet», betont sie. Zusätzliche Netzlandschaften könnten dies begünstigen. «Eine Erweiterung der Netzwelten würde ich sehr begrüssen, weil dadurch auch in der Höhe der Raum genutzt werden könnte und die Kinder so mehr Platz hätten», so Rüegsegger.

Der Rektor der Primarstufe Allschwil, Martin Münch, war planerisch stark ins Projekt involviert und hat viele positive Feedbacks erhalten. Er rückt das Argument des Raumgewinns in den Fokus. «Mit Netzebenen lassen sich die Zwischenräume in einem Schulhaus viel besser nutzen und sie sind daher gerade beim Platzmangel, der viele Schulen umtreibt, eine gute Option», so Münch. Die neuen «Orbit»-Schulmöbel werde man in Allschwil sicherlich weiter nutzen. «Und mein Ziel ist es, bei der anstehenden Planung eines Neubaus Netzwelten zu berücksichtigen und einzuplanen», so Münch. Selbstverständlich sei dies dann aber auch eine Frage des Budgets.

Martin Münch sieht Innovationen wie «Netzwelten» künftig auch als möglichen Standortvorteil und Anreiz für Lehrpersonen, sich an einer Schule zu bewerben. «Lehrpersonen sind offen gegenüber Innovationen. Es kann deshalb gut sein, dass innovative Schulhäuser den Beruf noch attraktiver machen. » Dies bestätigt Romina Rüegsegger. «Die Arbeit mit den Kindern und ihr Lernen hat für mich klare Priorität. Als Lehrperson möchte man den Kindern ein optimales Umfeld für ihre Entwicklung und ihre Bedürfnisse bieten. Würde bei der Schulraumplanung mehr Wert auf Raum für die Kinder gelegt, wo auch solche Netzwelten ihren Platz finden könnten, würde das bei einer allfälligen Stellensuche für mich sicherlich einen Faktor darstellen, wo ich mich bewerbe.»

- Marc Fischer - 

Netzwelten

Finanziell unterstützt wurde das Projekt «Netzwelten» von Innosuisse, der schweizerischen Agentur für Innovationsförderung. Als Wirtschaftspartner beim Projekt entwickelten die Jakob Rope Systems AG, Trubschachen, dehnungsarme Textilseile und -netze und die Novex AG, Hochdorf, Schulmöbel mit Netzelementen. Entwurf, Planung und pädagogisch-räumlicher Transfer wurden vom Schulraumentwickler und Architekten Andreas Hammon in Kooperation mit dem Engineering- und Sicherheitsexperten Thomas Ferwagner (MSIng officium, Stuttgart) ausgeführt. Mit einem grossen Stand zusammen mit Novex haben die Projektpartner im November 2023 das Projekt «Netzwelten» an der Swiss Didac in Bern einem breiten Publikum präsentiert.

Infos und Videos zum Projekt

Netzwelten – Lernen in Bewegung

Im Sommer 2023 wurde das vom Bund geförderte explorative Forschungsprojekt «Netzwelten – Lernen in Bewegung» unter der Leitung von Prof. Dr. Karin Manz, Institut Primarstufe PH FHNW, abgeschlossen. Mit begehbaren Netzen wurden an zwei Schulen (Allschwil BL und Lichtensteig SG) neuartige, für Schülerinnen und Schüler attraktive und bewegungsanimierende Lernumgebungen entwickelt und getestet. 

Sind die Lernraumkonzepte noch zeitgemäss?

Schulen operieren mehrheitlich noch mit Lernraumkonzepten aus dem 19. Jahrhundert: Statisches Sitzen und rezeptives Lernen am Pult ist grösstenteils die Lernrealität der Schülerinnen und Schüler. Bewegungsmangel zählt aber auch bei Kindern und Jugendlichen zu einem der grössten gesundheitlichen Risikofaktoren und wirkt sich nachweislich negativ auf die Lernfähigkeit aus. Darüber hinaus erweitert die grosse Heterogenität der Schülerinnen und Schüler an der Volksschule mit ihren vielfältigen Lernvoraussetzungen die funktionalen Ansprüche an die Lernumgebungen und stellt neue Fragen an das Anforderungsprofil von Schulbauten. Im Zentrum müssen dabei immer die Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern stehen. Der Raum als «dritter Pädagoge» (Loris Malaguzzi) und sein transformatives Potenzial für die Schul- und Unterrichtsentwicklung werden in den Fachdiskursen in der Schweiz eher stiefmütterlich behandelt.

Innovation «Netzwelten» und erste Ergebnisse

Die Innovation «Netzwelten» ist eine mögliche Antwort auf die verschiedenen Herausforderungen an eine «neue» Unterrichtskultur des 21. Jahrhunderts. Die neuartige und innovative Lernraumgestaltung mit begehbaren Netzen motiviert Schülerinnen und Schüler, sich darin zu bewegen, und ermöglicht eine vielfältige Nutzung durch unterschiedliche Unterrichtssettings und Sozialformen. Eine kleine Revolution auch im Bereich des Schulmobiliars ist der Gruppentisch «Orbit» mit darüberliegendem Netznest. So kann die Vertikale als «dritte Dimension» gleichzeitig genutzt werden – für viele Schulen eine mögliche Lösung für die aktuelle Raumknappheit. 

Die Begleitstudie zeigt insbesondere Chancen für offene Unterrichtsformen, da Schülerinnen und Schüler durch den zusätzlichen Lernort «Netzwelten» die Möglichkeit haben, proaktiv und kreativ ihr Lernen mitzugestalten. Allerdings braucht der Wandel der Unterrichts- und Schulkultur Zeit und Engagement: Lehrpersonen müssen die Kontrolle über die Schülerinnen und Schüler teilweise abgeben können und benötigen unterstützende, pädagogisch-didaktische Anregungen und Weiterbildungen. Unklar bleibt, ob sich die Netzwelten und bewegtes Lernen primär für die Lernphase des Übens und Automatisierens eignen. Es gilt herauszufinden, welche konkreten Lernaufgaben und Lernarrangements Potenziale speziell fürs Lernen in den Netzwelten bergen. Weiterführende Forschung könnte diesen Fragestellungen nachgehen.

- Fachbeitrag von Karin Manz und Kevin van Loon -

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