Skip to main content

19.12.2022 | Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik, Institut Architektur

Erzähl mal… Baukulturen in der Schweiz

Seit Juli 2021 untersucht ein Projektteam des Instituts Architektur der Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik FHNW Baukulturen in der Schweiz der Nachkriegszeit. Was ist denn eigentlich Baukultur? Und warum steht die Zeit von 1945 bis 1975 im Fokus dieses SNF-Projektes? Erzählt mal…

«Der Begriff Baukultur wird derzeit oft falsch verstanden und kontrovers diskutiert. Oft ist dabei von hoher Baukultur die Rede. In unserem Projekt wollen wir aber in erster Linie keine Wertung vornehmen, sondern nutzen den breiten Begriff der Baukultur, um das historische Baugeschehen in seiner ganzen Vielfalt zu beleuchten. Das heisst: Wir sind daran interessiert, die Komplexität einer Bauepoche und deren jeweilige, ganz individuellen Qualitäten herauszuarbeiten. Es geht also nicht darum, was schön oder von hoher Qualität ist, sondern zu erforschen, wie Räume und Landschaften entstehen, diese zu beschreiben und analysieren, und zu ergründen, welche gesellschaftlichen Entwicklung zu diesen Baukulturen geführt haben. Wir sprechen bewusst auch von Baukulturen im Plural, da es neben einer gemeinsamen Schweizer Baukultur in den einzelnen Regionen der Schweiz eine grosse Vielfalt von verschiedenen Baukulturen gibt. Baukulturen entfalten sich auf unterschiedliche Weise in den jeweiligen Landschaften, in städtischen und ländlichen Räumen, und sie werden von den Auftraggebenden, den Architekt*innen und den Nutzenden geprägt. In diese Baukulturen fliessen dann auch mediale Diskurse mit ein: Wie wurde über bestimmte Bauwerke berichtet? Wie werden diese in Bildern dargestellt und in Texten beschrieben? Welche Bauwerke gelten als wertvoll, welche nicht?

Mit Baukultur werden die gebaute Umwelt genauso wie die Prozesse, Diskurse, Akteur*innen und Netzwerke in den Fokus gerückt.

Mit Baukultur werden die gebaute Umwelt genauso wie die Prozesse, Diskurse,
Akteur*innen und Netzwerke in den Fokus gerückt.

Technische Bauwerke prägen die Landschaft

In unseren bisherigen Untersuchungen haben wir hierzu schon einige interessante Beobachtungen gemacht. So haben etwa die PTT¹ in der Nachkriegszeit viele Sendeanlagen gebaut, wobei die markanten Bauwerke aus technischen Gründen an landschaftlich relevanten Orten – das heisst, hoch gelegen und aus der Ferne gut sichtbar – platziert wurden. Damit erhalten sie eine landschaftliche Wirkung, wie sie auch Schlössern und Burgen eigen ist. Diese oft mit einem hohen gestalterischen Anspruch konzipierten Anlagen sahen, auch dank ihrer exponierten Lage, häufig eine touristische Nutzung vor. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Sendeturm der PTT auf dem Säntis.

Säntis Nordansicht

Nordansicht Säntis 1958. Bild: PTT (FKD St. Gallen)

Dieses Beispiel zeigt auch, dass die Baukulturen der Nachkriegszeit in der Schweiz auch auf die gestiegenen Bedürfnisse nach Vernetzung und Massenkommunikation reagierten. Ganz generell spielen die Massengesellschaft der Nachkriegszeit und verschiedene Formen von Netzwerken eine grosse Rolle. So wurde in dieser Zeit auch oft in Massenproduktion gebaut, indem zum Beispiel einzelne Bauteile industriell gefertigt wurden. Diese seriellen Produktionen entstammen wiederum einem Netzwerk aus Patentgebenden- und nehmenden, Herstellerfirmen, Architekt*innen und Entwickler*innen. Generell wurde in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz sehr viel gebaut, ein Grossteil des heutigen Baubestands stammt aus dieser Zeit. Dies ist mit ein Grund dafür, dass diese Zeitspanne bei uns im Fokus steht.

Den Wert des heutigen Baubestands sichtbar machen

Damit sind wir auch bei einer der grössten Herausforderungen unseres Forschungsprojektes: Es gäbe unzählige Wege und Möglichkeiten, sich den Baukulturen dieser Epoche anzunähern und sich in die Vielzahl der unterschiedlichen Themen und Aspekte zu vertiefen. Wir haben uns dazu entschieden, in einem ersten Schritt drei für diese Zeit besonders prägende Baubüros in den Blick zu nehmen und davon ausgehend weiter zu explorieren. Es handelt sich dabei um Büros, die bis anhin in der Architekturgeschichte noch nicht ausführlich untersucht wurden. Sie haben gemeinsam, dass sie viel gebaut haben, aber nicht in der ersten Reihe des Schweizer Architekturschaffens der Zeit stehen. Indem wir deren Nachlässe in Archiven sowie Sekundär- und Primärquellen aufarbeiten, mit Zeitzeug*innen sprechen, die Bauwerke besichtigen und begehen, aber auch Bilder und Texte zu deren Werken aus dieser Zeit auswerten, versuchen wir, mit einer interdisziplinären Perspektive wesentliche Aspekte der Baukulturen zu verstehen. Uns geht es dabei nicht um sogenannte Meistererzählungen, wie sie in der Architektur- und Kunstgeschichte geläufig sind, sondern um den Blick auf die grosse Masse an Bauten, die die gebaute Umwelt der Schweiz nachhaltig geprägt und verändert haben.

Matrix, um Baukulturen zu vergleichen

Wir haben dazu eine Matrix erarbeitet, die verschiedene räumliche Situationen in der Schweiz festhält und uns erlaubt, diese im Zeitverlauf und über alle drei Sprachregionen hinweg zu vergleichen und im historischen Kontext zu verorten. Unsere Erkenntnisse zur Schweizer Baukultur der Nachkriegszeit sollen einen Beitrag zu aktuellen Diskursen leisten. Durch historisches Wissen über den Bestand können vorschnelle Urteile, was als schön oder hässlich gilt, in Frage gestellt werden. Die Gesellschaft kann so für Fragen des Erhalts des Bestands sensibilisiert werden – dies ist insbesondere für einen nachhaltigen Umgang mit Bauressourcen von grosser Bedeutung. Auch heute wird viel gebaut, ähnlich viel wie während der sogenannten Trente Glorieuses der Jahre 1945 bis 1975, was unserem Forschungsprojekt eine aktuelle Relevanz gibt. Ab 1975 wurde dieser Bauboom zunehmend in Frage gestellt, und derzeit wäre eine differenzierte Reflexion der gängigen Baupraxis ebenfalls angezeigt.»

Das Projektteam bildet Einblicke in seinen aktuellen Forschungsstand auch auf Instagram ab: www.instagram.com/baukulturen_der_schweiz

Instagram Baukulturen

Zum Projekt

Das durch den Schweizerischen Nationalfonds geförderte Projekt dauert von Juli 2021 bis Oktober 2024 und hat das Ziel, die Baukulturen der Schweiz im Zeitraum 1945-1975 zu untersuchen sowie historisch-kulturell einzubetten. Dabei stehen drei Baubüros aus allen Sprachregionen der Schweiz im Fokus: Suter + Suter aus Basel, das Atelier des Architectes Associés AAA aus Lausanne und das Ingenieurbüro Giovanni Lombardi aus Locarno.

Weitere Informationen

Das Projektteam

harald stühlinger.jpg

Prof. Dr. Harald Stühlinger leitet das Forschungsprojekt, ist Professor für Architektur-, Bau- und Städtebaugeschichte am Institut Architektur der Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik FHNW. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte der Architektur und des Städtebaus des 19. Jahrhunderts bis heute sowie im Bereich Fotografiegeschichte.

christina haas.jpg

Christina Haas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Architektur FHNW und hat in Hamburg und Lausanne ein Architekturstudium absolviert. Von 2018 bis 2021 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sektion Baukultur des Bundesamt für Kultur. Im SNF-Projekt «Baukulturen der Schweiz 1945–1975» hat sie den Lead für die Baukulturen in der Romandie. 

torsten korte.jpg

Torsten Korte ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Architektur FHNW. Er hat Kunstgeschichte in Bonn und Venedig studiert und 2021 an der Humboldt-Universität in Berlin promoviert. Im SNF-Projekt «Baukulturen der Schweiz 1945–1975» hat er den Lead für die Baukulturen in der italienischsprachigen Schweiz.

anne-catherine schröter.jpg

Anne-Catherine Schröter arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Architektur FHNW und hat einen Masterabschluss in «Art History and Cultural Heritage» an der Universität Bern erlangt. Von 2019 bis 2021 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sektion Baukultur des Bundesamts für Kultur. Im SNF-Projekt «Baukulturen der Schweiz 1945–1975» hat sie den Lead für die Baukulturen in der Deutschschweiz.

¹ steht für «Post-, Telefon- und Telegrafenbetriebe», staatliche Behörde für den Post-, Telefon-, Telegraf- und Telefaxbetrieb in der Schweiz und Liechtenstein zwischen 1928 und 1998.

Weitere Stories

In der Reihe «Erzähl mal…» geben Mitarbeitende und Studierende der Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik FHNW Einblicke in Projekte, Themen oder Gremien, die ihnen am Herz liegen. Bisher haben die folgenden Personen erzählt:

Institut Architektur, 11.OG Ost

Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik Institut Architektur Hofackerstrasse 30 4132 Muttenz
Diese Seite teilen: